Teil 1: Die Novizin
Prolog
Nyah
Dunkellande
Der Thronsaal lag schwarz wie die Nacht vor ihr, doch die Dunkelheit machte Nyah nichts aus. Die Schatten begrüßten sie wie einen alten Freund, gehorchten ihr bereits, seit sie ein kleines Mädchen war.
Ihre Schritte hallten von den Wänden wider. Sie nahm nur ihren eigenen Atem und ein leises Keuchen wahr. Durch die Schwärze hindurch konnte Nyah eine Gestalt erkennen, die an ein Podest gekettet war.
Die müden Augen waren blutunterlaufen, der Körper erschlafft. Nyah biss sich auf die Lippe und spürte die Kälte der schwarzen Magie in ihrem Nacken. Sie ließ sie erschaudern.
Ein letzter Test, flüsterten die vertrauten Stimmen in ihrem Kopf. Sie gehörten ihren Meistern – den Magiern. Aus der Finsternis manifestierten sich vier lautlose Schatten, gehüllt in rissige, graue Umhänge. In ihren schemenhaften Klauen hielten sie drei magische dunkle Schwerter. Die Artefakte.
Das vierte fehlte.
Sie hatten keine Gesichter, waren nicht länger menschlich. Als Kind hatte Nyah ihr Anblick immer Angst eingejagt. Die Magier hatten ihr jegliche Schwäche ausgemerzt, sie stark und widerstandsfähig gemacht.
Lektionen, die Nyah niemals vergessen würde.
Und jetzt würden sie sich endlich auszahlen.
Bestehe die Prüfung und du bist bereit.
Entschlossen griff Nyah nach dem Dolch, der in ihrem Gürtel steckte, schnitt sich damit in die Handfläche und ließ das Blut auf die schwarzen Fliesen des dunklen Turms tropfen. Es glänzte rot und mächtig, genau wie sie sich in diesem Moment fühlte.
Tue es, Magiertochter.
Nyah erschauderte. Der metallische Geruch von Blut lag in der Luft und legte sich auf ihre Zunge.
Das Blut eines sterbenden Elementiers.
Sie beugte sich über die Gestalt, die an das Podest gefesselt war. In der Dunkelheit schimmerte die Klinge ihres Dolches rötlich, doch selbst der Anblick der Waffe schüchterte den Elementier nicht ein. Er würdigte Nyah, trotz ihres eng anliegenden, schwarzen Kleides, keines Blickes. Sie hatte es anlässlich ihres letzten Tests ausgewählt, um ihre Meister zu beeindrucken.
Im Gegensatz dazu trug der Elementier einen blauen Umhang - wie alle Wassermagier in der Gilde. Auch Nyahs Schultern würde der blaue Stoff bald zieren.
Die Ketten des Mannes klirrten, als sie ihm den Dolch an die Kehle presste. Nyah würde ihn nicht nach seinem Namen fragen. Es war ihr egal, wer er war oder aus welchem Dorf er stammte. Er war ein Mitglied der Elementiergilde von Avalan und das war alles, was sie wissen musste. Das machte ihn zum Feind.
Mit glasigen Augen starrte der Wassermagier auf seine Fesseln, sein Blick ausdruckslos, besiegt und gebrochen. Nyahs Gesicht würde das letzte sein, was er jemals sah. Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor, dort, wo sie ihm mit der Spitze des Dolches langsam, aber sicher die Kehle aufschlitzte.
Der Mann gab nicht einmal einen Laut von sich. Mit letzter Kraft jedoch umklammerte der Elementier Nyahs Handgelenk.
»Irgendwann wirst du dafür b-bezahlen, Mädchen«, krächzte er, während Blut seine Mundwinkel hinabrann. »I-ich bin ein Mentor ... der Elementiergilde. Damit wirst du nicht ... nicht d-durchkommen.« Sein Körper erschlaffte und sackte leblos in sich zusammen.
Nyah wischte den Dolch an ihrem Umhang ab.
Eine Verschwendung.
Die Worte des Elementiers überraschten sie nicht sonderlich. Es war das Flehen eines Sterbenden, ein weiteres Opfer auf ihrer langen Liste. Dabei hatte das Blutvergießen doch gerade erst begonnen. Sie fürchtete die Dämonen hinter dem Schleier nicht.
Gut gemacht, lobten die Magier ihre Tochter. Du weißt, worin deine Aufgabe besteht. Bringe uns das vierte Artefakt zurück.
Nyah verbeugte sich mit einem triumphierenden Lächeln. Das tat sie immer, um der Dunkelheit ihren Respekt zu erweisen.
Dann zog sie sich die Kapuze ihres Umhangs über den Kopf und steckte den Dolch, auf dessen Klinge das Elementierblut bereits getrocknet war, zurück in ihren Gürtel.
Mit leisen Schritten verschwand Nyah aus dem Thronsaal, bereit, sich mit den Schatten zu vereinen, die sie schon ihr ganzes Leben begleiteten. Nun war es an der Zeit, sie auf die Welt loszulassen.
Kapitel 1
Ràn
Ràn war auf dem Weg in seine Gemächer. Er wusste, dass etwas nicht stimmte, und seine Vermutung bestätigte sich, als er Senator Alecor in seinen Gemächern vorfand.
Der Senator saß auf einem Stuhl, die Hände auf dem hölzernen Esstisch vor ihm verschränkt. Normalerweise suchte er ihn selten zu so später Stunde auf, schließlich leuchtete der Mond bereits hell am Himmel. Was auch immer er Ràn mitteilen wollte, es musste dringend und ihm sehr wichtig sein.
»Ich ... habe von dem verschwundenen Wassermagier gehört«, sagte Ràn. »Wir haben im Briswich Forest nach ihm gesucht, doch es gibt keine Spur von ihm.«
»Das habe ich bereits befürchtet.«
Alecor seufzte. Er war der Senator der Elementiergilde von Avalan, doch trotz seines hohen Ranges hatte Ràn, seit er ein kleiner Junge war, ein enges Verhältnis zu ihm. Ràn war gemeinsam mit Alecor und seinem Bruder aufgewachsen. Der Anführer der Gilde war fast so etwas wie ein Vater für ihn. Und Ràn wusste, dass Alecor ihn ebenso sehr schätzte wie er ihn.
»Wir vermuten, dass er entführt wurde«, erwiderte der Senator und stand auf. Er machte einen Schritt auf Ràn zu. »Entführt? Von wem?«, fragte Ràn.
»Das weiß ich leider nicht. Ich habe gehofft, dein Quartett könnte mehr herausfinden.«
Ràn hasste es, den Senator zu enttäuschen, doch er konnte Alecor keine Antworten geben. Er hatte nichts zu berichten. Mal wieder hatte er versagt. Das war in den Augen der Gilde nichts Neues für Ràn, denn er war schon immer belächelt worden. Die Elementier tuschelten hinter vorgehaltener Hand. Natürlich nicht vor dem Senator, denn Alecor würde es niemals zulassen, dass sie einen seiner Soldaten öffentlich schikanierten, doch seit dem Tod seines Bruders hatte sich für Ràn vieles geändert. Er hatte sich zurückgezogen, sich in die Einsamkeit geflüchtet. Die einzigen Elementier, denen er vertraute, waren die Soldaten seines Quartetts. Keno, Aria und sein bester Freund Jero waren ihm gegenüber nicht nur loyal, sondern ihm auch eine dringend gebrauchte Stütze während seiner Trauer gewesen.
Alecor räusperte sich. »Verzeih mir. Ich möchte dich zu so später Stunde nicht damit belasten. Hast du nach deiner Mutter gesehen? Geht es ihr gut?«
Ràn nickte. Er hatte mit seiner Mutter zusammen gegessen und ihr dann geholfen, ein paar Kräuter wegzuräumen. Jetzt schien das weißlich-kühle Licht des Mondes in seine Gemächer, erinnerte ihn daran, dass er sich ausruhen sollte, doch an Schlaf war nicht zu denken.
»Sie hat erwähnt, Ihr hättet mit ihr gesprochen«, erwiderte Ràn. Alecor nickte.
»Sie macht sich Sorgen um dich. Und das tue ich auch. Seit dem Tod deines Bruders bist du nicht mehr derselbe, Ràn.«
Ràn schnaubte. »Es geht mir gut.«
»Bist du sicher? In letzter Zeit hast du deine Gemächer kaum verlassen.«Alecor legte eine Hand auf seine Schulter. Er zuckte vor der Berührung zurück. Ràn hasste es, dem Schmerz ins Gesicht zu sehen. Das Mitleid des Senators brauchte er nicht.
Er wusste selbst, dass er versagt hatte.
Ràn wollte nicht an den schmerzlichen Verlust seines Bruders erinnert werden.
Elijah.
Wie sehr er sich wünschte, die Zeit zurückdrehen und ihn in der Abschlussprüfung retten zu können. Doch dieser Wunsch würde ihm auf ewig verwehrt bleiben.
»Es ist keine Schande zu trauern«, sagte Alecor sanft. »Ich vermisse Elijah auch.«
Ràn wusste, dass er nicht der Einzige war, in dessen Herz Elijahs Verlust eine klaffende Wunde hinterlassen hatte. Seine Mutter und der Senator trauerten ebenfalls. Im Stillen.
Lijana hatte mehrfach versucht, Ràn dazu zu überreden, sie nach Harloth, in die Hauptstadt Avalans, zu begleiten, doch er hatte das Angebot jedes Mal abgelehnt. Seine Gemächer waren ein sicherer Hafen für ihn. Hier fand er Ruhe vor dem regen Treiben. Ruhe vor den neugierigen Blicken. Jeder Wimpernschlag im Schloss war ein Urteil über sein Versagen.
Ràn war ein Feigling.
Das leugnete er nicht. Er hatte seinen Bruder sterben lassen.
Seit seinem Tod vor fünf Jahren versuchte er, seinen Fehler wiedergutzumachen, war in Elijahs Fußstapfen getreten und kämpfte im Namen der Gilde. Doch das war nicht genug, würde niemals genug sein. Der Schatten seines Bruders verfolgte Ràn unaufhörlich. Er konnte nicht akzeptieren, dass Elijah für immer fort war. Ràn wollte ihn stolz machen, aber er fürchtete, sein Bruder wäre enttäuscht, wenn er ihn jetzt sehen könnte.
»Wenn Ihr wollt, dass ich wieder zur Barriere reite ...«, begann Ràn, doch Alecor hob eine Hand, um ihn zu unterbrechen.
»Nein. Ich habe eine andere Aufgabe für dich. Eine, die deine Anwesenheit hier im Schloss erfordert.«
Ràn begegnete Alecors Blick. Der Senator war in seiner Anwesenheit selten so ernst. Ja, er wirkte beinahe einschüchternd. Die Gilde munkelte, er sei ein Feuermagier, doch Ràn hatte ihn seine Macht nur selten nutzen sehen. Sie war anders als die der restlichen Feuermagier in der Gilde und deutlich mächtiger. Angeblich brannten Alecors Flammen heißer, verglühten zu einem gleißenden Licht, das Heilkräfte besaß. Das wahre Ausmaß seiner Macht offenbarte der Senator nur wenigen Elementiern. Ràn schätzte sich glücklich, zu ihnen zu gehören.
Sein seltsames Verhalten beunruhigte ihn jedoch mehr, als Ràn jemals zugeben würde. Welche Neuigkeiten der Senator ihm wohl überbringen würde?
Was immer Alecor ihm sagen wollte, es würde Ràn nicht gefallen.
»Rasmus sollte einen Elementier ausbilden. Er ist ein Mentor und die neuen Novizen treffen bereits in zwei Tagen im Schloss ein.«
Alecor atmete tief durch und presste Daumen und Zeigefinger auf seine Nasenwurzel.
»Und jetzt wollt Ihr, dass ich seinen Platz einnehme«, schlussfolgerte Ràn.
»Ich weiß, welche Bürde auf deinen Schultern lastet«, entgegnete Alecor. »Gerade nach dem Verlust deines Bruders wird es nicht einfach für dich sein, einen Novizen auszubilden, aber ich würde dich nicht darum bitten, wenn es nicht wirklich wichtig wäre.«
Alecor schenkte ihm ein Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. »Könnt Ihr nicht einen anderen Elementier fragen?«, erwiderte Ràn, schärfer als beabsichtigt. »Einen, der das Element Wasser beherrscht, so wie Rasmus?«
»Alle anderen Wassermagier unter den Mentoren haben bereits einen Rekruten.« Alecor seufzte. »Zudem bist du einer der besten Krieger der Gilde. Von deinem Element einmal abgesehen, könntest du den Novizen viel beibringen.«
Ràn seufzte ebenfalls. »Lasst mich raten? Das war die Idee meiner Mutter. Darüber habt Ihr mit ihr gesprochen.«
Oh, Ràn kannte seine Mutter gut genug, um das zu wissen. In den letzten Jahren hatte er oft darüber nachgedacht, das Schloss zu verlassen, doch sie war die Einzige, die ihn davon abhielt. Ràn brauchte seine Mutter ebenso, wie sie ihn brauchte. Es würde ihr das Herz brechen, auch noch ihren zweiten Sohn zu verlieren.
»Ganz recht«, antwortete Alecor. »Das war ihre Idee. Lijana denkt, es wird dir guttun, wieder mehr unter Menschen zu kommen. So musst du nicht den Rest deiner Tage in diesen Gemächern verbringen.«
Ràn hätte beinahe laut aufgelacht.
»Ihr wisst, dass ich noch immer meine Pflichten an der Barriere zu erfüllen habe, oder? Ich bin ein Soldat, Alecor. Ich ... muss ein Quartett anführen.«
»Das habe ich natürlich nicht vergessen.« Der Senator lächelte. »Und deine Pflichten an der Barriere werden nicht zu kurz kommen, das verspreche ich dir.«
Ràn biss sich auf die Lippe. Er zwang sich, tief durchzuatmen. Blieb ihm denn eine andere Wahl? Alecors Bitte glich einem Befehl und er wusste, früher oder später würde der Senator einen Weg finden, ihn dazu zu zwingen.
»In Ordnung«, sagte er und presste sich seine geballte Faust auf die Brust. »Ich tue, was Ihr von mir verlangt.«Alecor schien erleichtert.
»Es besteht kein Grund, so förmlich zu sein«, erwiderte er. »Ich vertraue dir, Ràn. Die Ausbildung eines Novizen ist keine Kleinigkeit. Als Mentor trägst du die Verantwortung für deinen Schützling. Er muss sich jederzeit auf dich verlassen können.«
Ràn nickte. »Ich werde Euch nicht enttäuschen, Senator. Ihr habt mein Wort.«
»Nichts anderes habe ich von dir erwartet.« Alecor drückte Ràns Schulter. »Die Aufnahmeprüfung findet in zwei Tagen statt. Bis dahin solltest du dich ausruhen. Ich zähle auf dich, Ràn.«
Ràn sah Alecor nach, der mit erhabenen Schritten seine Gemächer verließ. Sein eindringlicher Blick hatte sich in sein Gedächtnis gebrannt.
Missmutig betrachtete er sich im Spiegel und strich seinen weißen Umhang glatt. Er zeichnete ihn als Luftmagier aus. Und nun wäre Ràn gezwungen, einen Wassermagier auszubilden.
Er wünschte, der Senator hätte ihm mehr Informationen gegeben, um wen es sich handelte. Wie alt die auszubildende Person war. Alecor verkündete die Namen der Novizen jedoch erst am Tag der Aufnahmeprüfung und bis dahin wäre Ràn genauso ahnungslos wie die restlichen Mentoren.
Vor ein paar Tagen hatte er beobachtet, wie der Senator ein Pergament mit ihren Namen und Elementen unterzeichnet und seinem Kommandanten gegeben hatte.
Zu diesem Zeitpunkt hatte er es nicht als wichtig erachtet und jetzt ...
Ràn schluckte.
Was, wenn er der Aufgabe nicht gewachsen war? Es war eine Ehre, als Mentor auserkoren zu sein. Ihnen wurde in der Gilde großer Respekt entgegengebracht.
Das war Ràn natürlich bewusst und er bewunderte die Ausbilder für das, was sie taten, aber das machte ihn noch lange nicht zu einem geeigneten Lehrer. Er war auch nicht gerade dafür bekannt, ein guter Anführer zu sein, obwohl Keno, Jero und Aria ihm widersprechen würden.
Ràn schaffte es ja kaum, sein Quartett zu beschützen. Wie sollte er es dann hinkriegen, einen Novizen auszubilden? Was hatte Alecor sich nur dabei gedacht?
Wenn sein Schützling während der Initiation starb, wenn Ràn genauso versagte, ihn zu beschützen wie seinen Bruder, würde er sich das niemals verzeihen.
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