
Prolog
Aus dem Buch der Yōkai
20 Jahre vor dem Götterfall – Aoi
Es fiel Regen in der Nacht, als die einzige jemals aus Liebe gegebene Seele einer Nîrach, einer Menschenfrau, sich mit den großen Wassern vereinigte, um aus den saphirblauen Tropfen neues Leben entstehen zu lassen. Während das ihre verblasste, begann das Herz meines Kîrodai zu schlagen. Und der ewige Fluss wisperte seinen Namen: Deerion Ryuu.
1 Jahr vor dem Götterfall – Rôhi
Die Grenzen schwinden. Es bleibt den unseren nichts zu tun, außer einer Macht zu weichen, die sich niemals über die unsere hätte erheben sollen. Die Erde erbebt. Tiefe Schluchten zerbrechen ihren Leib. Der Wind hat sich in einen Orkan verwandelt. Das Feuer zerreißt jede ihm unbekannte Existenz und das Wasser ... Seine Wellen werden alles unter sich begraben.
10 Jahre nach dem Götterfall – Rôhi
Die Weltengänge brechen auf, bilden schmale und unpassierbare Wege zwischen den nun fünf Kontinenten Meridîans. Es gibt kein Zurück mehr, die Grenzen zwischen den Elementreichen der Menschen und dem Herzen unserer Welt sind vollkommen.
100 Jahre nach dem Götterfall – Koen
Als die Sonne ihr heutiges Spiel am Firmament aufnahm, schmeckte der Wind anders. Als läge in den unendlichen Weiten der Himmelszelte eine Veränderung, die nur darauf wartet, hervorzubrechen.
200 Jahre nach dem Götterfall – Aoi
Die Statuen der Götter erinnern an die Nacht, in der sich Meridîan für immer veränderte. Die Nîrach scheinen sie vergessen zu haben. Ihr einziges Ziel ist, mehr Macht zu erlangen. Sie beginnen, das unendliche Wasser zu jagen. Vernichten unseren Clan, brechen gewaltsam auseinander, was für immer der Schutz unserer Erinnerungen sein sollte.
220 Jahre nach dem Götterfall – Sorcha
Angst spricht aus den Bäumen. Tränkt die Erde und vergiftet Wind und Wasser. Angst, dass uns mehr genommen wird, als wir ertragen können. Die Kraft der Götter ist seit 220 Jahre in ewigem Stein gebannt. Uns, ihren Kindern, fällt die Aufgabe der Wächter zu. Doch wir wachen über ein Bruchstück des Herzens, das einst ganz Meridîan umfasste. Und unser Zorn wächst.
225 Jahre nach dem Götterfall – der Archivar
Er ist fort. Die Seele des Ozeans wurde uns genommen.
250 Jahre nach dem Götterfall – der Archivar
Jede Geschichte wird von ihren Helden erzählt. Denn wer würde den Worten eines Monsters Gehör schenken?
Legenden weichen unerschütterlichem Glauben.
Sie nennen uns Yōkai-Dämonen. Wir sind schuld an ihrem Leid, und auch wenn wir nie versucht haben, etwas an ihrer Sicht auf die Welt zu ändern, schneiden die Lügen in unsere Seelen wie brennender Stahl.
Doch Meridîans Herz schreibt diese Zeilen, in dem Wissen, dass Veränderung die Elemente bewegt.
Achdeâ siragk.
Nichts ist für immer ...
Kapitel 1 – Asayo
»Eine gute Königin regiert in Wahrheit und Eifer. Ihr Bestreben gilt dem Wohl ihres Volkes, niemals ihrem eigenen.«
Lehre der verloschenen Herrscherin
Gierig grub die Hitze des Feuersees ihre Klauen in die kleinen Boote. Brannte so heiß, dass nicht einmal Asche von ihnen blieb. Nicht von ihnen und nicht von unserem verehrten Königspaar.
Jedes erloschene Leben in Fîerir wurde dem Element zurückgegeben. Totes Fleisch nährte das ewige Feuer. Stimmte die Flammenflüsse milde, damit ihr unersättlicher Hunger unsere Dörfer verschonte.
Umrahmt von den fünf Geweihten, jenen Menschen, die das Feuer bei ihrer Geburt gezeichnet und zu Auserwählten gemacht hatte, stand ich am Ufer des Sees. Auch nachdem nichts mehr von den Booten zu sehen war, verharrten wir in Reglosigkeit. So lange, bis jeder Geweihte alle neun Lobpreisungen entrichtet hatte. Ganz wie es Tradition war.
Die Hitze kroch unter meine Kleidung, erwärmte das Holz meiner fein geschnitzten Maske und raubte mir mehr und mehr den Atem. Ich wusste längst nicht mehr, ob es Tränen oder Schweißtropfen waren, die von meinem Kinn rannen und in der flirrenden Luft verdunsteten. Obgleich ich mich bereits von meinen Eltern verabschiedet hatte, barg der Anblick ihrer vergehenden Körper eine Endgültigkeit, die mein Herz mit Trauer erfüllte.
Das Meerwasser, mit dem ich meine Unterkleider getränkt hatte, war der Hitze gewichen und hatte nicht zurückgelassen als raue Salzflocken.
Der vierte Geweihte hob zu sprechen an. Ich lauschte seinen Worten ebenso wenig wie denen seiner Vorgängerin. Nicht nur, weil ich die Verse auswendig kannte, mit denen sie dem Feuer huldigten, sondern auch, weil ich glaubte, all ihre Lobpreisungen wurden am falschen Ort erbracht. Nur ein weiterer Teil meiner Gedanken, den mir meine Mutter beigebracht hatte, niemals zu teilen. Mit niemandem.
Das hatte mich jedoch nicht davon abgehalten, dieselben Worte in der letzten Nacht über den Ozean zu schicken, in der Hoffnung, das Wasser und der Wind würden sie bis an die andere Küste tragen, wo die majestätische Statue der Feuergöttin thronte. Sorgfältig auf einzelne Pergamentstreifen geschrieben war jeder Vers über der kleinen Kerze in Flammen aufgegangen und die schwelenden Ascheflocken hatten sich in den Himmel erhoben. Rotglühenden Sternen gleich.
Ein letztes Mal drangen die Silben der ersten Lobpreisung an meine Ohren. Das Flimmern der Luft mischte sich mit dem meines Sichtfeldes, bis ich nicht mehr sagen konnte, ob das Feuer oder mein stärker werdender Schwindel die Schuld daran trug.
Der Singsang erstarb. Es war vollbracht. Meine Eltern waren nun eins mit ihrem Element. Und ich sandte eine tonlose Bitte an die Feuergöttin, dass sie meine Gebete für ihre Seelen erhört hatte.
Die Geweihten bildeten eine Reihe und neigten nacheinander ihre Köpfe. Ich tat es ihnen gleich. Doch meine Lippen blieben versiegelt. Kein Wort des Dankes drang aus ihnen. Nicht heute und niemals zuvor hatte jemand die Stimme der Feuerprinzessin vernommen. Und auch als Königin würde sich dies nicht ändern. So war es der Wunsch des Wassers gewesen, als es mich vor dem Ertrinken bewahrt hatte. Mich aus den tosenden Fluten gerettet und an der Küste der Feuerlande zurückgelassen hatte, wo meine neue Mutter, die Königin, mich fand.
Der Weg zurück in die Stadt war beinahe noch beschwerlicher als der hinauf an den Feuersee. Das schwarze Gestein war uneben und porös. Beinahe heimtückisch brachen kleine Stücke heraus, sobald man einen Fuß daraufsetzte. Als wolle der heilige Berg testen, wer seiner würdig war. Die Träger der Seelenboote waren bereits vor der Zeremonie wieder aufgebrochen und die Geweihten sprachen in meiner Gegenwart nicht ohne Anlass. Da es diesen nicht mehr gab, hüllten sich unsere Schritte in Schweigen. Ich hätte ohne mein Schreibwerkzeug ohnehin nichts antworten können.
So viele Heilkundige hatten meine Eltern zu mir gebracht. Bis ich meiner Mutter anvertraut hatte, dass ich das Sprechen auf Wunsch des Wassers verwehrte. Und auch, wenn ihr Volk niemals davon erfahren hatte, war die ehemalige Herrscherin der Feuerlande eine Frau des alten Glaubens gewesen und somit hatte sie meine Erklärung gebilligt und nie mehr in Frage gestellt. Sie hatte mich den Respekt vor den Göttern gelehrt. Nicht vor ihren Elementen, sondern vor ihrem wahren Wesen. Doch ich wusste auch, was das Volk über mich erzählte. Ein Yōkai habe sicher meine arme Familie verschlungen und ich sei, wie durch ein Wunder, verschont geblieben, jedoch habe der Schrecken meinem jungen Geist der Stimme beraubt.
Volksmärchen und Geschichten voller Grauen, die sich in der Dunkelheit der Nacht erzählt wurden, hatten die Menschen seit dem Götterfall vor Jahrhunderten ängstlich werden lassen. Mit jeder neuen Erzählung der alten Geschichten wurden die Taten der Dämonen grausamer und alle, die ich während meiner Studien gelesen hatte, waren geradezu blumige Abendgeschichten, wenn man sich in den Straßen der Dörfer umhörte.
Am Fuß des heiligen Berges verabschiedeten sich die Geweihten und mein Geleit nahm seinen Platz ein. Vier Männer und Frauen meiner Garde, persönlich auserwählt von der Generalin. Auch wenn ihr Geleit einem rituellen Akt gleichkam – eine wahrhaftige Gefahr existierte nicht. Das Feuervolk war loyal. Auch wenn ich nicht das leibliche Kind meiner Eltern war, würde niemand mein Erbe infrage stellen. Ganz egal, wer ich die ersten drei Jahre meines Lebens gewesen war, nun war ich die Thronfolgerin der Feuerlande.
Die Wachen an den Pforten des Palastes nahmen Haltung an, als wir sie passierten. Ein jeder von ihnen richtete seine Augen direkt auf mein maskiertes Gesicht. Ich erwiderte ihre Respektbekundung, indem ich jeden von ihnen ansah, während ich die Stufen emporstieg.
In den Augen liegt die Wahrheit. Kein Fîerir würde seinem Gegenüber den Blickkontakt verwehren, es sei denn, er hätte unehrliche Absichten. Aus diesem Grund trug ich, wie alle Herrschenden vor mir und alle, die mir folgen würden, die kunstvoll geschnitzte Maske aus gebranntem Holz. Unser Volk sah lediglich unsere Augen. So konnten keine hübschen Worte und kein schönes Gesicht vom Sitz der Seele ablenken. Nichts konnte den Blick verwirren und eine Lüge verschleiern.
Und niemand sah mein Lächeln, als ich durch den reich verzierten Torbogen auf den Innenhof des Palastes trat. Ganz gleich, wie oft ich diesen Anblick bereits gesehen hatte, ich verliebte mich jedes Mal aufs Neue.
Geschäftiges Treiben erfüllte den Vorplatz mit lärmendem Leben. Dahinter erhoben sich die majestätischen Stockwerke des Palastes. Aus geschwärztem Holz gebaut und verziert durch blutrote Stützbalken. Kunstvolle Balkone rahmten die Ebenen ein und wurden von kleinen Vordächern geschützt.
Wenn ich jemandem die Feuerlande und ihre Bewohner erklären müsste, ohne Worte – ich würde diesen Anblick auswählen. Das hier war die Essenz unseres Kontinents. Er war laut, zuweilen grob, doch er war ebenso ehrlich, klar, stark und von rauer Schönheit.
Eine Bedienstete mit glutroten Augen und ebenso dunkelflammendem Haar eilte auf mich zu und sank in einen schnellen Knicks. Den Blick stets auf meinen gerichtet. »Es ist alles vorbereitet.«
Flankiert von meinem Geleit betrat ich den Palast. Die Wände, an keiner Stelle dünner als die Länge eines Armes, schafften es, den heißen Winden des Kontinents Einhalt zu gebieten, und tonlos atmete ich auf. Mein Herz gehörte den Feuerlanden, auch wenn sie es meiner Seele schwer machten, hier zu leben.
Unser Weg führte uns durch den Gang der Ahnen. Vorbei an den geschmitzten Säulen, die den vergangenen Herrschenden gewidmet waren. Sie erzählten von den Leben der Erloschenen und trugen zur Krönung ihre Masken. Sie empfingen jeden Besucher und jeden Bewohner der oberen Räume. Sahen aus der Ewigkeit des Feuers auf uns herab und suchten die Wahrheit in unseren Augen. Am Ende der Reihe glänzten zwei neu aufgestellte Säulen. Raues Schwarz, durchzogen von roten Bildern, als hätten die Flammen selbst die Leben meiner Eltern eingraviert. Ihre Masken, so vertraut, als wären es ihre Gesichter, blickten mir entgegen. Ich erwiderte ihren leeren Blick, hauchte einen Kuss auf meine Fingerspitzen und sandte ihn ins ewige Feuer. Irgendwann würde auch für mich hier eine Säule stehen und ich konnte nur hoffen, dass sie von einer Vielzahl roter Linien durchzogen werden würde. Denn nicht ich würde die Geschichte meines Lebens erzählen, sondern mein Volk.
Wir betraten die zweite Ebene, die beinahe gänzlich vom großen Festsaal eingenommen wurde. Lediglich eine Wand trennte den großen Raum vom Treppenaufgang und verwehrte mir den Blick ins Innere. Die Regierenden der anderen drei Kontinente waren gemäß dem Protokoll zur Wahrung der Einheit eingeladen worden. Auch wenn sie kein Recht zum Widerspruch gegen die Ernennung hatten, war ihre Anwesenheit ein Symbol dafür, dass sie die Wahl der vergangenen Herrschenden respektierten. Sollte eine Farbe fehlen, zeigte mir das, dass ich die Unterstützung eines anderen Volkes verloren hatte.
Die Türen wurden aufgestoßen und ein Farbenmeer aus Blau, Grün und Weiß erwartete mich. Ich verwehrte meiner Lunge ein erleichtertes Aufatmen. Vor allem vor einem der Anwesenden war jedes Zeichen von Unsicherheit oder Schwäche unabdingbar zu vermeiden. Der König des Wassers war der erste der Reihe. Eine Jacke aus meerblauem Stoff spannte sich um seine breite Gestalt, die mehr einer Rüstung denn einer Festtagskleidung glich.
Ich gab meinem Geleit ein Zeichen und sie verweilten an der Tür, während ich auf den Herrscher der Wîrohir zutrat. Seine gletscherblauen Augen hielten den Blickkontakt nicht. Ein Affront, den ich allerdings nicht brauchte, um zu wissen, dass mein Gegenüber selten gute oder aufrichtige Absichten hatte.
Ich hob meine Hand und er legte seine Handfläche gegen meine. In einer fließenden Bewegung ließen wir unsere Arme fallen. Wie Wasser, das einen Abhang hinabstürzt.
Mit einem süffisanten Grinsen neigte er den Kopf zur Seite und sah mich an. »Ich bin gespannt zu sehen, wie eine Königin ohne eigene Stimme regieren wird.«
Die Frau neben ihm räusperte sich vernehmlich. Ihr fließendes Gewand aus weiß durscheinenden Stoffbahnen bewegte sich ohne wahrnehmbaren Luftstrom. Als wäre der Wind selbst in ihre Kleidung gewoben. Sie hatte ihren Partner vor wenigen Wochen verloren und war daher bereits in Begleitung ihres Sohnes und Nachfolgers angereist. Ihre sturmgrauen Augen richteten sich auf den Wasserkönig. »Manchen von uns würde es gut zu Gesicht stehen, öfter zu schweigen.«
Als Älteste unter den Regierenden war sie die Einzige, die es sich erlaubte, dem Wasserkönig etwas zu entgegnen. Und weil sie wusste, dass sie eine ebenso mächtige Position im Gefüge der Kontinente erfüllte. Das Volk der Lysân bestand aus überaus fingerfertigen Menschen. Sie stellten Waffen her, aber auch Kleidung und andere Gebrauchsgüter der vier Völker. Und auch, wenn das Erdkönigreich als Sitz unserer Nahrungsmittel eigentlich gemeinsam mit dem Wasserkönigreich und seinem lebensspendenden Süßwasser die bedeutendsten Plätze im politischen Gefüge unserer Welt einnahmen, schienen die Waffen des Luftvolkes von größerem Belang für den König zu sein. Zumindest kämpfte er seine Widerworte zurück und nickte gezwungen.
Die Herrscherin des Luftvolkes reckte mir ihre Hände entgegen. Ich legte meine hinein und wie es für die Lysân üblich war, hob sie meine Finger an ihre Lippen und blies sanft dagegen. »Eure Eltern waren wundervolle Menschen und ich bin sicher, Ihr werdet dem Feuervolk als würdige Nachfolgerin dienen.«
Ihr Sohn, der ebenfalls in fließendes Weiß mit einem Hauch von Grau gekleidet war, ließ mir denselben Gruß zuteilwerden wie seine Mutter. Er wählte die Farben stets passend zu seinen Augen, die so hell waren wie eine schwindende Wolke. Er war älter als ich und bei den wenigen Besuchen, die er gemeinsam mit seinen Eltern wahrgenommen hatte, war er stets höflich und zurückhaltend gewesen.
Die Letzten in der Reihe waren die Königinnen des Erdvolkes. Beide waren in robuste, dunkelbraune Hosen gekleidet. Doch während die eine ein helles Lindgrün für ihre Tunika gewählt hatte, das einen starken Kontrast zu ihren nussbraunen Augen und den beinahe schwarz wirkenden Locken bildete, hatte sich die andere für ein dunkles Waldgrün entschieden, das exakt dem Ton ihrer Augen entsprach. Die mahagonifarbenen Haare hatte sie, wie immer bei offiziellen Anlässen, in zwei Zöpfen kunstvoll nach hinten geflochten.
Die Erste reckte mir ihren Arm entgegen und ich schloss meine Finger um ihr Handgelenk. Ihre Haut war rauer als die der anderen. Die Königinnen der Erath arbeiteten ebenso auf den Feldern wie ihr Volk. Ihre Augen blickten fest in die meinen. »Möge die Verbindung von Feuer und Erde fruchtbaren Boden erschaffen.«
Ich nickte ihr zu und wiederholte die formelle Begrüßung mit ihrer Partnerin.
Der schnörkellose, massive Thron aus rotem Holz nahm den Festsaal für sich ein, ohne Prunk auszustrahlen. Die Menschen der Feuerlande waren sich ihrer Stärken bewusst, Prahlerei lag nicht in ihrer Natur. Ebenso wenig in der ihrer Herrschenden. Ich trat an der entzündeten Feuerschale zu seinen Füßen vorbei und ließ mich nieder. Mein rotes Gewand schien eins mit ihm zu werden. Lediglich die schwarzen Verzierungen und der breite Stoffgürtel um meine Taille hoben sich ab.
Ein Gardist des Geleits klopfte von innen an die doppelflügelige Tür und sogleich betraten die fünf Geweihten den Saal. In ihren Händen hielten sie je einen Kohleschreiber und ein Stück Pergament. Sie stellten sich in einer Linie vor mir auf und die Herrschenden der anderen Kontinente bildeten eine zweite Reihe in ihren Rücken.
Meine Mutter hatte mich auf die Zeremonie vorbereitet und doch erfasste eine nervöse Anspannung meinen Körper. Ein Kribbeln, als würden winzige Feuerfunken durch meine Adern wandern.
Der erste vom Feuer Auserwählte richtete das Wort an mich. »Asayo, ist Eure Seele frei von Lüge und Trug?«
Ich senkte das Kinn, während ich in die rotbraunen Augen meines Gegenübers blickte. Der Geweihte notierte ein »Ja« auf dem Pergament in seinen Händen und verbrannte es in der kleinen Feuerschale zu meinen Füßen.
Dieses Vorgehen wiederholten die übrigen Vier mit ihren Fragen.
»Asayo, schwört Ihr, die ewige Flamme zu ehren bis zu dem Tag, an dem Ihr eins mit ihr werdet?«
Ja.
»Asayo, schwört Ihr, Euer Licht dem Feuervolk zu spenden?«
Ja.
»Asayo, schwört Ihr, Euer Volk zu schützen, selbst wenn es Euer Feuer zum Verlöschen bringt?«
Ja.
»Asayo, ist Eure Seele frei von Zweifel über Eure Aufgabe?«
Ja.
Ich erhob mich und kniete mich vor die Anwesenden. Mit dem kleinen Messer, welches neben der Feuerschale lag, stach ich mir in eine Fingerspitze und ließ fünf Tropfen Blut in die Flammen fallen.
Die Geweihten legten sich je eine Faust auf die Brust. Der Älteste unter ihnen ergriff erneut das Wort. »Königin Asayo, die Flammengeküsste, möge das Feuer Euch ein langes Leben schenken, auf dass ihr das Erbe Eurer Eltern mit Stolz erfüllen könnt.«
Mit dem letzten Wort öffneten die Auserwählten ihre Finger und legten die flache Hand auf ihr Herz. Die Herrschenden der anderen Kontinente taten es ihnen gleich und grüßten mich zum ersten Mal als die neue Königin der Feuerlande.
Die Krönungszeremonie war vorbei. Kein übermäßiger Prunk und kein ausschweifendes Fest würden sie begleiten. Feierlichkeiten würde es erst geben, wenn meine Zeit abgelaufen war. Wenn ich meinem Volk einen Grund gegeben hatte, mein Leben und Wirken zu ehren. Die Festlichkeiten meiner Eltern hatten eine Woche angedauert. Mein Erbe würde mir alles abverlangen, um ihrer Güte und Fürsorge für die Fîerir, für ihren Kontinent, gerecht zu werden.
Die Geweihten verabschiedeten sich und ebenso zogen sich die übrigen Herrschenden zurück, bevor wir uns am morgigen Tag erneut treffen würden. Das Reisen zwischen den Kontinenten war von großen Gefahren gezeichnet. Es wäre leichtsinnig, diese Strapazen lediglich für eine Zeremonie von kurzer Dauer auf sich zu nehmen. Stattdessen würde meine Regentschaft sogleich mit einer ersten Beratung zur aktuellen Lage beginnen. Doch zuvor hatte ich noch etwas Wichtiges zu erledigen.
Meine Gemächer lagen im Dunkeln. Die Flammen in den Feuerschalen waren in meiner Abwesenheit verloschen. Lediglich schwach schimmernde Glut erhitzte noch den geschwärzten Stahl.
Bereits den Weg in meine Räume hatte ich allein zurückgelegt. Ein Geleit war außerhalb von offiziellen Anlässen nicht notwendig. Lediglich ein Bote wartete stets vor meiner Tür, für den Fall, dass ich eine Nachricht überbringen musste oder jemanden zu mir bestellen wollte.
Der Kohlestift kratzte leise über das Pergament. Der Befehl, den ich darauf notierte, brannte bereits so lange in meinem Herzen, dass ich vergessen hatte, wann der Gedanke zu mir gekommen war.
Das Geheimnis meiner Vergangenheit lag im Reich der Yōkai. Mein Geist war zu jung gewesen, um sich an meine Rettung zu erinnern, doch ich wusste, dass es so war. Das Wasser hatte mein Leben bewahrt.
Doch weshalb sollte ein Kind des großen Ryuu einem Menschen das Leben retten? Was scherte sich ein Wasserfall um einen kleinen Tropfen Gischt, der an einem Felsen zerschellte?
Der Kohlestift schwieg. Das Pergament schien die Worte in den Raum zu schreien. Der Bote trat ein und nahm das zusammengerollte Schriftstück an sich. Das schwarze Seidenband, welches es zusammenhielt, kennzeichnete den Empfänger. Die Faust auf die Brust gelegt wandte er sich zum Gehen und die Tür fiel geräuschvoll hinter ihm ins Schloss.
Ohne die glühenden Feuersteine zu entfachen, trat ich hinter einen Paravent und legte die zeremonielle Kleidung ab. Die Maske bettete ich auf das für sie vorgesehene Kissen.
Der junge Fîerir würde nicht lange brauchen, um die Quartiere der Garde zu erreichen, wo die Generalin ihn erwarten würde, um das auszuführen, was einer Königin nicht möglich war.
»Finde den Drachen.«
Kapitel 2 - Deerion
»Die Veränderung erreicht die ewigen Wasser, ehe sie das Herz selbst umspült.«
250 Jahre nach dem Götterfall – Himani
Die tiefblauen Buchstaben fingen das Licht des aufgehenden Mondes ein, als wollten sie in ihm ertrinken. Es ebenso zwischen die Seite des schweren Folianten bannen, der vor mir auf dem dunklen Holztisch lag und dessen dünne Pergamentseiten leise raschelten, als ich den von Wasseradern durchzogenen Buchdeckel schloss. Schmunzelnd betrachtete ich die Schreibfeder, die seit jeher unberührt an ihrem Platz lag.
Wenngleich Rôhi vermutlich weiser war als wir anderen Götterkinder zusammen, machte er sich von der Aufgabe des Archivars keine Vorstellung, die der Realität auch nur nahegekommen wäre.
Ich verließ den halbrunden Raum und schloss sorgsam die Tür. Mit wenigen Schritten durchmaß ich das Innere des Zeitlosen und trat ins Freie.
Seine gläsern wirkende Baumkrone spielte ihre ganz eigene, kaum wahrnehmbare Melodie. Ich setzte mich auf eine der massiven Wurzeln, die das Erdreich rund um den Stamm durchbrachen, legte den Kopf in den Nacken und betrachtete das funkelnde Sternenspiel des nächtlichen Firmaments. Die Luft war erfüllt von den eindringlichen Gerüchen der Nachtschattengewächse, die nach und nach ihre faustgroßen Blütenkelche öffneten. Weiß funkelnde Pollen stoben in die Dunkelheit davon und ein Aufatmen wogte über die Lichtung. Ihr Ursprung lag auf einem erhöhten Felsplateau, von dem aus sich Meridîans Herz in alle Himmelsrichtungen öffnete. Die Grenzen der vier Menschenreiche flankierten die aus dem Kern ihres Elements entstanden Statuen der Götter. Die Umrisse von Erîdja und Lîvelless – Erde und Luft – konnte ich schemenhaft in der Ferne erkennen. Zartgrün wie junges Gras und weiß wirbelnd wie Nebelschwaden fingen sie das Licht der Nacht ein.
Seufzend schloss ich für einen Moment die Augen, lauschte dem Wispern des Unterholzes und dem Murmeln des Baches, der als zarter Wasserfall die Felskante hinabfiel.
Die Zeit der ersten Mondstunde war seit dem zehnten Jahr nach dem Götterfall friedlich. Friedlicher als jede andere Tages- oder Nachtzeit. Der Augenblick, in dem die Natur der Dunkelheit erwachte und ihrer Schwester einen sorglosen und behüteten Schlaf zuteilwerden ließ, erfüllte mich mit wohliger Wärme.
Ein Knistern drang an meine Ohren, gefolgt von einem hohen Kichern.
»Ihr könnt euch nicht anschleichen.« Grinsend betrachtete ich eine kleine Ansammlung von Onibi, deren Farben von Hell- bis hin zu Feuerrot reichten. Sie stoben auseinander, tanzten in sicherem Abstand um meine Gestalt herum und eines der kleineren Irrlichter traute sich so nah an mein Gesicht heran, dass ich seine fließende Wärme spüren konnte.
»Mir müsst ihr nicht den Weg weisen«, flüsterte ich und streckte meine Hand aus. Angezogen von den funkelnden Schuppen entlang meiner Finger hüpften die Naturgeister über meine Haut, ohne mich zu berühren. Eine Windböe fuhr in mein Haar, blies die einzige weiße Strähne tiefer in meine Stirn, bevor sie ein vertrautes Raunen offenbarte.
Ich trat an den Rand des Plateaus, fing den nächsten leise lachenden Luftstrom mit ausgebreiteten Flügeln ab und ließ mich von ihm ins nachtschwarze Firmament katapultieren. Das empörte Fiepsen der Onibi verlor sich im Rauschen der kühler werdenden Brise.
Der dichte Wald, dessen Boden von Feueradern und Flüssen durchzogen war, unter mir und der vollkommene Nachthimmel über mir waren der Inbegriff von Freiheit, von vollendetem Glück. Ich lehnte mich nach links, ehe ich mit einem weiteren kräftigen Flügelschlag die Position wechselte und mich auf den Rücken fallen ließ.
Die Arme hinter dem Kopf verschränkt glitt ich inmitten von unendlichem Sternenstaub dahin. Mondlicht betupfte die schillernden Schuppen, die große Teile meines Körpers schmückten, als hätte der Ozean meine Haut mit seiner grenzenlosen Vielfalt an Blautönen bemalt.
»Genug im Glanz der Ewigkeit gebadet, Rion.« Aus den zarten Wolken lösten sich die Umrisse einer gefiederten Schlange. Zwinkernd verflüchtigte sie sich in durchscheinendem Nebel.
»Du glaubst doch nicht wirklich, mich schlagen zu können, oder Koen?«
Lachend ging ich in den Sturzflug über und die Melodie des Windes drang als empörtes Zischen an meine Ohren. Mitternachtsblau verlor sich in Kaskaden aus ewigem Grün, als die Zweige des Laubwaldes mit dem Sternenlicht spielten.
Ich zog die ausladenden Schwingen ein, hinderte die Äste daran, mich festzuhalten, und vollführte eine halbe Drehung, bevor ich federleicht auf der bemoosten Lichtung landete, die von leuchtenden Blüten erfüllt war. Ihr ganz eigener Gesang erfüllte die kühle Luft. Beinahe sanft senkten sich meine Flügel gen Erde, um keines der schillernden Pollengefäße zu zerbrechen. Nur einen Augenblick später spürte ich die Anwesenheit meines besten Freundes und die Brise, die mich umgab, schnaubte ungehalten.
»Dein Vorsprung hat dich übervorteilt.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und grinste, wissend, dass die übliche Schimpftirade folgen würde.
»Wenn man bedenkt, dass deine Schwingen vermutlich so kraftvoll sind wie mein halber Clan zusammen ... und noch dazu waren die Strömungen tückisch. Sie zu überzeugen, hat einen Augenblick gedauert. Bei Sora, ihre Sturheit kann lediglich mit der deinen mithalten–«
»Koen«, versuchte ich es und beobachtete, wie die Nebelschwaden in unzähligen Wirbeln dem Firmament entgegen stoben.
»Vielleicht sollten wir nicht jedes Mal den gefallenen Wald auswählen–«
»Koen!«
Der blasse Dunst zerstob, als ich meine Stimme erhob, und mein Freund fuhr zusammen, was die schneeweißen Federn in seinem ebenso farblosen Haar erzittern ließ. Seine Augen wechselten von Silbrig-Weiß zu einem stürmischen Grau. Ich schmunzelte. Er war wütender über seine Niederlage, als ich gedacht hatte.
»Dein Element ist das Wasser – das Wasser, Rion!« Unwirsch fuhr er sich durch die hellen Strähnen, die allen Götterkindern zuteilwurden. Allen außer mir. Mein Haar war seit meiner Geburt dunkel gewesen wie die Schale der Calebmuscheln, lediglich eine fingerbreite Strähne fiel weiß in meine Stirn.
»Es tut mir leid, dich zu enttäuschen, aber ...«, ich bewegte meine Flügel leicht auf und ab, »ich habe die hier.«
»Und erscheint dir das nicht auch sehr ungerecht? Ich kann unter Wasser nicht atmen, Rôhi und Sorcha ebenfalls nicht.« Koen hob eine Braue und musterte mich. »Darauf gibt es wohl keine Antwort in den ewigen Wassern?«
Ich wandte mich um und verließ die Lichtung. Mein Freund folgte mir lautlos, doch das Wispern des nächtlichen Windes verriet ihn. Ich hatte 270 Jahre Zeit gehabt, ihm zu lauschen und das Raunen somit von Soras Clan unterscheiden zu können. Es gab keine Brise, die wie Koen klang, kein Säuseln, das ihm ähnelte. Vertraut und sanft, als wollte es alle Widrigkeiten Meridîans von mir fernhalten und den Lüften anvertrauen.
Als wir die mondbeschienene Wiese betraten, durch die sich der Lauf eines Baches grub, an dessen Ufer Wildbeeren in allen Farben und Größen wuchsen, zogen sich meine Schwingen zurück. Verbargen sich unter den geschwungenen Linien aus Schuppen auf meinem Rücken.
»Ich habe es versucht«, murmelte ich und sah hinauf in den sterngeschmückten Himmel.
Mein Freund trat an meine Seite, seine Finger streiften meinen Arm.
»Das musst du nicht tun. Wir werden uns auch ohne den Eintrag erinnern.«
Ich ballte die Fäuste, schluckte gegen den Schmerz an, der meine Kehle zu zuschnüren schien.
»Es ist meine Aufgabe. Ich bin der Archivar, persönliche Erinnerungen sollten ebenso im Inneren des Zeitlosen aufgehen wie die der Clans und Yûrei.«
Koen sank in das zart wogende Gras und zog mich mit sich. Auf dem Rücken liegend, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, betrachteten wir das Firmament.
»Aois Gabe war wunderschön, aber die deine ist wertvoll. Das Wertvollste, was Meridîan besitzt. Die großen Wasser haben sie dir geschenkt, weil sie dich als würdig erachtet haben. Noch so eine Bevorzugung seitens der ewigen Elemente, wenn du mich fragst.«
Ich sah das Schmunzeln, das an seinen Mundwinkeln zupfte.
»Manches braucht die Zeit der Stürme, um zu uns zu gelangen.«
Der Wind fuhr durch das Grün, schlüpfte unter den Stoff meiner Kleidung, kitzelte meine Sinne und ließ die Tropfen in ihren schuppenförmigen Ruhestätten entlang meiner Haut aufleuchten.
Vor fünfundzwanzig Jahren war mein Kîrodai, mein Bruder, verschwunden und der Clan Ryuus auf zwei letzte Seelen geschrumpft, die Meridîans Herz bevölkerten. Zwei Seelen, durch deren Adern die endlosen Wasser flossen. Und wenn unsere Zeit gekommen war, wir eins wurden mit den Strömen des Universums, würde das blaue Element die Kontinente verlassen.
Eine Sternschnuppe zeichnete ihren Himmelsschweif hell leuchtend über unsere Köpfe.
»Merkwürdig, dass die Menschen sich noch immer lebensverändernde Dinge von der verglühenden Energie der allumfassenden Ewigkeit wünschen, anstatt ihre Herzen auf ihren eigenen Weg vertrauen zu lassen.«
Ich runzelte die Stirn. »Du solltest nichts von ihnen erwarten. Sie sind keinen unserer Gedanken wert.«
Mein Freund griff nach einer lila Beere und ein leises Knacken erklang, als er in die säuerliche Schale der Frucht biss.
»Vor dem Götterfall gab es gute Seelen unter ihnen. Du weißt, wie zahlreich die Mitglieder der Clans waren.«
Ich schnaubte und schloss die Augen. »Und wessen Schuld ist es, dass sie es nicht mehr sind? Und dass seit der Geburt von Sorchas Schwester vor 250 Jahren, kein Elementkind mehr zu uns kam?«
Ein weiteres verhalten knackendes Geräusch und ein tiefes Seufzen von Koen waren Antwort genug. Ich spürte, wie die Erinnerungen unter meinen Schuppen unruhige Wellen schlugen. Blendete ihr Flüstern aus und konzentrierte mich auf den Zorn in meinem Inneren.
Einst mochten die Nîrach und wir in stiller Übereinkunft gelebt haben. In respektvollem Umgang hatten wir Meridîan Seite an Seite als einen Kontinent besiedelt, doch diese Zeiten gehörte ebenso dem nicht enden wollenden Fluss der Vergangenheit an wie der Frieden zwischen den Völkern.
Ich setzte mich auf und warf meinem Begleiter, der noch immer die Sterne betrachtete, einen Blick zu. »Himani erwartet mich.«
Koen blinzelte. »Du weißt, dass der Rat zusammenkommt?«
Ich nickte und das vertraute Ziehen zwischen meinen Schulterblättern kündigte das Öffnen meiner Flügel an.
»Du weißt auch, dass du anwesend sein musst?« Mein bester Freund erhob sich nun ebenfalls und verschränkte die Arme vor der Brust. Ein kleiner Regen aus den kühlen Tropfen des Baches ging auf ihn nieder und entlockte ihm ein empörtes Grummeln.
Grinsend hielt ich inmitten der kaum sichtbar ausgeführten Handbewegung inne und zerzauste ihm stattdessen das weiße Haar.
»Ich komme vielleicht etwas zu spät.« Meine Füße verließen das silbrig schimmernde Gras.
»Oh nein! Du wirst pünktlich sein, Rion.« Koens gespielt wütender Blick ließ mich schallend auflachen und ohne eine Erwiderung verlor ich mich in dem faszinierenden Azurblau der Nacht.
Das Rauschen des Wasserfalls drang an meine Ohren, bevor er in Sichtweite kam. Die Luft roch so frisch, als hätte sich das flüssige Element zwischenzeitlich in klirrendes Eis verwandelt, ehe es seine plätschernde Form erneut annahm.
Ich ging in den Sinkflug, ließ mich am Rand des Teiches nieder, den die gewaltige Kaskade speiste und auf dessen türkis funkelnder Oberfläche sich die Silhouette des Mondes brach. Ein Schauer ergoss sich über meine Gestalt, während die Spitzen meiner Schwingen leise platschend das Äußere des Wasserspiegels durchstießen. Seine Tropfen benetzten die lichtspendenden Glockenblumen, deren Blütenblätter sich bei Anbruch des Tages wie kleine Meeresschnecken zusammendrehten und den golden funkelnden Kern in ihrem Inneren vor den warmen Sonnenstrahlen verbargen.
Die Hütten des Ryuu-Clans waren umgeben von ihrem Element. Es umfloss ihre Fundamente, rann von den verzierten Fassaden und geschwungenen Dächern. Wurde ein Clanmitglied auf die ewige Reise zurück zum Ursprung seiner Seele geschickt, nahm sich das Wasser, was ihm gehörte, und löste die Behausung in schäumenden Kristallen, die gen Himmel stiegen, auf.
Himanis Heim wurde von dunstigen Perlen geschmückt, die aneinander gereihte Ornamente ergaben, deren Klang die gesamte Lichtung erfüllte, wenn der Wind mit ihnen spielte.
Ich streckte die Hand aus, als die Tür geöffnet wurde und wissende hellblaue Augen in die meinen sahen.
»Ich dachte mir doch, dass ich diesen selbstbewussten Flügelschlag von irgendwoher kenne.« Lächelnd ergriff ich ihre von blauen Adern durchzogenen Finger und begleitete sie in das Innere des Hauses.
»So alt ich auch bin, aber mein Gehör ist noch immer das eines jungen Ryuu.« Himanis Stimme glich dem Gurgeln eines Gebirgsbaches und ich stellte mit wachsender Unruhe fest, dass sich ihr farbloses Haar in dunkelblauen Wellen zu verflüchtigen schien.
Sie bemerkte meine Anspannung und tätschelte mir den Arm, da sie meine Wange schon längst nicht mehr erreichen konnte.
»Na na, lass diese laut plätschernden Gedanken nicht Überhand nehmen, Ōji. Dass sich mein Körper mehr und mehr darauf besinnt, woher ich komme und wohin ich gehen werde, ist eine faszinierende Reise und ein großes Geschenk des Wassers.« Sie ließ sich auf einem Berg aus grob gewebten Kissen vor einem kniehohen Tisch nieder, auf dem kleine kugelförmige Teegläser standen. Das Aroma von Wasserminze und anderen Kräutern erfüllte den Raum. Ich setzte mich ihr gegenüber und sie schob mir eines der Trinkgefäße zu.
»Deine letzte Reise liegt so weit in der Zukunft, dass nicht einmal die Stürme von ihr wissen«, sagte ich und nahm einen Schluck des lauwarmen Tees. Himani lachte glucksend.
»Oh Deerion, du bist ihm wahrlich ähnlich. Aber die Liebe, die dein Herz erfüllt, hast du von deiner Mutter.«
Den warmen Ausdruck ihrer Augen flutete eine Mischung aus Stolz und Traurigkeit, die so tief reichte wie der Ozean selbst. Die weise Ryuu war an meiner Seite gewesen, als ich nach dem Götterfall aus dem weiten Blau des Himmels gefallen und meine Seele so schwer von Kummer gezeichnet worden war, dass ich dachte, mich selbst verloren zu haben. Und während Aoi vor fünfundzwanzig Jahren verschwand, als wäre seine Existenz nichts weiter als ein schützender Traum gewesen, hatte Himani meinen Zorn zu etwas Heilsamen gemacht. Hatte mir in Erinnerung gerufen, wie wichtig meine Aufgabe für unsere Völker war. Dass sich die Elemente auf mich verließen. Ohne sie hätte Meridîan seinen Archivar verloren.
»Kanntest du sie?« Ich sah meinem Gegenüber in die hellblauen Iriden. Sie wechselten nicht mehr ihre Nuance, wie sie es bei uns Götterkindern taten, wenn sie unsere Emotionen nach außen trugen. Waren in einem Strom zarter Klarheit erstarrt.
»So gut, wie es mir möglich war. Auch fünfzig Jahre vor dem Götterfall waren die Menschen uns nicht alle zugetan. Ihr Seelenopfer sorgte für den Fortbestand unserer Existenzen und wie du weißt, sind nur die hellsten Seelen imstande, Götterkinder hervorzubringen, während die anderen in den großen Kreislauf der Elemente eintreten und Meridîan nähren.«
Sie lächelte und sah hinauf zu der gewölbeartigen Decke, die von saphirblauen Steinen verziert war. Ich hatte diese Geschichte bereits unzählige Male gehört und wurde ihrer dennoch nie müde.
»Deine Mutter kam bereits als junges Mädchen über die damals noch verschwimmende Grenze des heutigen Wasserkönigreiches. Sie verbrachte viel Zeit in der Nähe des Zeitlosen, um unser Volk verstehen zu lernen. Und dort traf sie auf den Gott unseres Clans.« Himanis Lächeln wurde liebevoller und ich schluckte. »Ich glaube, sie hat geahnt, dass ihr kein langes Leben geschenkt worden war, und ich bin sicher, dass sie in diesem Augenblick wusste, dass sie ihre Seele nicht nur den großen Wassern, sondern unserem ewigen Fluss schenken würde. Und dass sie es aus Liebe tun würde.«
Ihr Blick fand erneut den meinen und ihre kühlen, von den Jahrhunderten gezeichneten Finger tätschelten meinen Handrücken.
»Sie war dreißig Jahre alt, als sie ihr Versprechen einlösen musste. Zwanzig Jahre vor dem Götterfall haben die Elemente den Clan Ryuus gesegnet. Mit einem der unseren, der nicht nur ein Kind des Wassers, sondern eines der Liebe zwischen einem Menschen und einem Kami war. Aus diesem Grund bist du etwas Besonderes, Deerion, und aus diesem Grund nennen wir dich Ōji. In keinem anderen Clan hat eines der Götterkinder diesen außergewöhnlichen Platz inne. Und es wird nie wieder eine vergleichbare Seele den Weg zu uns finden.«
Mit dem Versiegen von Himanis Stimme flutete Stille den Raum und meine Brust schmerzte, da mir das Atmen zunehmend schwerer fiel. Mit bebenden Fingern schob ich das Teeglas von mir und erhob mich. Spürte, wie hellblaue Augen mich musterten.
»Es gibt eine Ratsversammlung ... ich sollte gehen.« Die Worte kratzten in meinem Hals und ich öffnete eilig die Tür.
»Vergiss nie, wer du bist und wer du sein willst«, trug der Wind die Bitte meiner ältesten Freundin an meine Ohren, ehe er unter meine ausgebreiteten Schwingen griff und mich in schwindelerregende Höhen katapultierte. Dunkle Haarsträhnen fielen mir in die Augen und Wut entfachte ihre Flammen in meinem Inneren, formte einen verzehrenden Fluss, der sich durch meine Adern grub.
Wie sollte ich je vergessen, wer ich war, wenn allein meine Erscheinung mich jeden Tag daran erinnerte, dass ich meiner Familie in keiner Weise glich? Meine Gestalt länger wandeln konnte als Koen, Sorcha oder Rôhi.
Das freiwillige Opfer der Frau, die meine Mutter gewesen war, erfüllte mich nicht mit Stolz. Es zeigte mir nur einmal mehr, weshalb die Nîrach niemals Teil der Ströme der Ewigkeit sein würden. Denn ganz gleich, ob aus Liebe oder Respekt gegeben, die schlagenden Herzen der Menschen verachteten das Opfer ihrer sterblichen Seelen.
Sie verachteten uns, die Monster in ihren Geschichten.
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