1.
Ich hasse Weihnachten.
Weiße, dicke Flocken wirbeln mir um den Kopf, rauben mir die Sicht. Alles ist dumpf und still, als wäre ich gefangen im Inneren einer Schneekugel. Und irgendjemand hört nicht auf, sie zu schütteln.
Niemand hat es um diese Uhrzeit mehr nötig, die Straßen zu räumen – immerhin ist es Heiligabend und alle sitzen glücklich beisammen. Oder können wenigstens so tun.
Schnee knirscht unter meinen Stiefeln und meine Jeans sind nass bis zu den Knien, als wäre ich auf einer Nordpol-Expedition und nicht mitten in der Stadt auf einem Zwanzig-Minuten-Marsch.
Ich will nur noch nach Hause, die tiefgefrorene Lasagne in die Mikrowelle schieben und die Literflasche Merlot in mich hineinschütten, die in einer beunruhigend dünnen Tüte an meinem linken Arm baumelt. Wenigstens auf die Tankstelle ist noch Verlass an diesem Scheißabend.
»Das wird nichts mehr«, hatte die Heimleiterin gesagt und nebenbei auf ihre Uhr geschielt, während ich vor ihr stand, eine Dose mit den Keksen in der Hand, die wir früher immer gemeinsam gebacken haben.
Was hatte ich auch erwartet? Ein Weihnachtswunder? Dass Ben mit einem Strauß Rosen und großen Versprechungen vor meiner Tür steht? Dass meine Mutter mich ansieht und dieses eine Mal erkennt, wer ich bin? Dass alles wieder gut wird?
»Ich will Ihnen keine Hoffnung machen«, hatte diese blöde Kuh im Pflegeheim gesagt. »Gehen Sie nach Hause, Frau Will. Machen Sie sich ein paar schöne Tage. Immerhin ist es Weihnachten.«
Weihnachten. Drauf geschissen!
Ich biege in die schmale Sackgasse ein, und der Wind wird stärker, bläst mir eiskalt ins Gesicht, als wollte er mich mit aller Kraft davon abhalten, nach Hause zu kommen. Nur noch wenige Schritte trennen mich von meiner Wohnung, meiner Couch und einer Reihe schlechter, gewalttätiger Filme im Fernsehen. Genau das, was ich brauche.
Im Gehen grabe ich den Inhalt meiner Handtasche um. Mein Handy. Ein Lipgloss. Diverse Zettel, zerknüllt und nicht zerknüllt. Ein kleines Deospray für den Notfall und zur Krönung auch noch ein klammes Taschentuch – und nein, es ist nicht durchnässt vom Schnee. Igitt.
Wo sind nur diese Kackschlüssel? Tief wühle ich in dem durchweichten Ledersack und drehe den Inhalt von links auf rechts. Keine Schlüssel.
Ich sprinte die drei Stufen zu meiner Haustür hoch und streife mir die Kapuze ab. Vielleicht kann ich im Licht der Hausbeleuchtung mehr erkennen. Doch meine Tasche ist nichts anderes als ein schwarzes Loch, in dem sich definitiv alles befindet, was ich gerade nicht suche.
Das darf doch nicht wahr sein! Ich stehe vor meiner Haustür, friere mir den Hintern ab und komme nicht rein! Mist, Mist, Mist! Habe ich sie wirklich im Pflegeheim liegen lassen? Jetzt muss ich den ganzen Weg zurückgehen - und das bei diesem Wetter!
Ein Knall peitscht durch die Dunkelheit, ein Ächzen und dann –
Stille.
Wattewölkchen steigen von meinen Lippen auf, verlieren sich in der schwarzen Winternacht. Mein Herz pocht hart gegen meinen Brustkorb. Was zur Hölle war das? Es klang so, als wären zwei Autos zusammengestoßen, aber nichts ist zu sehen. Die Schneedecke auf der Straße ist vollkommen unberührt. Ich lausche in die Finsternis. Alles ist ruhig.
Wer weiß, vielleicht hat die dicke Nachbarskatze wieder eine Mülltonne umgerissen. Oder jemand hat eine Autotür zugeknallt und sich dann aus diesem Schneesturm in seine warme Wohnung gerettet. Was ich übrigens auch gern tun würde.
Muss ich jetzt wirklich den ganzen Weg zurücklaufen? Vielleicht sollte ich einfach Ben anrufen, er hat noch seine Schlüssel …
Nein. Im Leben nicht. Da laufe ich lieber. Nasser kann ich eh nicht mehr werden.
Ein Schatten huscht an mir vorbei und ich wirble herum.
Keine Spur von dem Katzenvieh, nicht einmal Pfotenabdrücke im Schnee. Mein eigener Atem dröhnt mir in den Ohren, hektisch, abgehackt. Gott, Mella, jetzt reiß dich zusammen! Vielleicht war es auch eine Ratte oder ein Vogel auf der Suche nach einem Unterschlupf. Nur …
Da steht jemand. Kein Zweifel. Keine fünf Meter von mir entfernt, ein Stück die Straße runter. Jemand, der vor einer halben Minute noch nicht da war. Und er bewegt sich nicht. Gekrümmt steht er da und sieht zu mir her. Hat er Schmerzen? Gab es vielleicht doch einen Unfall und er ist verletzt?
Ich schiebe meine Unruhe beiseite, mache einen Schritt in seine Richtung. »Geht es Ihnen gut? Brauchen Sie Hilfe?« Der Wind bläst mir einen ganzen Schwung Schneeflocken ins Gesicht. Tausend Nadelstiche fahren mir bis ins Hirn – und als ich meine Augen wieder öffne, ist der Schatten fort. Wo ist er hin?
Zitternd sauge ich Atem ein und schiebe die Hand in meine Tasche. Wo ist das Deospray? Bei Gott, ich sprühe ihm die ganze Dose ins Gesicht, wenn es sein muss!
Das Schneegestöber wird dichter und dichter. Wieso habe ich nicht das Knirschen seiner Schritte im Schnee gehört, als er wegging?
Weil da niemand war, Mella. Es gab keinen Unfall. Oder siehst du ein Auto? Lichter? Einen Rettungswagen? Da ist niemand. Warum auch? Wer würde sich bei diesem Wetter an eine Straße stellen und darauf warten, jemanden überfallen zu können, mitten in der Stadt? Es ist Heiligabend, verflucht. Selbst die bösen Jungs sitzen unterm Tannenbaum und packen ihre Geschenke aus.
Ich zwinge mich zu einem Lachen, und gleich sieht alles viel besser aus. O Mann. Ich bin echt blöd. Es wird Zeit, dass ich in die warme Wohnung komme und endlich die Weinflasche von ihrem Korken befreie. Ich klingele jetzt bei meinen Nachbarn, dann kann ich den Wohnungsschlüssel gemütlich im hellen, warmen Treppenhaus suchen. Und sollte ich ihn wirklich im Pflegeheim vergessen haben, kann ich mir immer noch überlegen, ob ich Ben anrufe. Oder ein Taxi.
Ein gellender Schrei zerreißt die Nacht. Ein lautes Klirren. Was … Shit, die Tüte ist gerissen! Der schöne Merlot! Aber … wieso liege ich hier unten? Eben war ich doch noch … Mein Kopf, meine Brust – bin ich ausgerutscht? Scheiße, tut das weh!
Eine schwarze Wolke wirft sich über mich. Ein Gewicht, schwer wie ein Felsbrocken, zerquetscht meinen Brustkorb, Finger zerren an meiner Jacke. O nein … Weg, weg von mir! »Bitte, in meiner Handtasche ist Geld und mein Handy, mehr habe ich nicht, bitte …«
Ein Keuchen dringt an mein Ohr, ein Knurren wie von einem wilden Tier. Augen funkeln über mir wie glimmende Kohlen, weit aufgerissen, gierig. Fremder Atem streicht über meine Lippen.
Meine Schläge interessieren ihn nicht. Mit einem fiesen Geräusch zerreißt meine Bluse und Fingernägel bohren sich in mein Fleisch. Meine Hände rutschen an seiner schmierigen Jacke ab, fallen zu Boden. Er kniet sich darauf, nagelt mich mit seinem Körper am Boden fest. Ich kann mich nicht mehr rühren, nicht mehr atmen. Meine Fingernägel scharren sich durch Schnee und Eis, scheuern über den Asphalt, zersplittern zu Fetzen. Die Schreie verrecken in meiner Kehle. Ich kann nicht mehr, ich … Luft …
Er ist zu schwer, viel zu stark für mich. Er presst das Leben aus mir heraus, dieser Mann, gräbt sich in meinen Hals, schmatzend, stöhnend, bis Wärme aus mir hervorbricht. Mit jedem Herzschlag pulsiert sie aus meinen Wunden, liebkost meine eiskalte Haut mit ihrem sanften Streicheln.
Ruhe. Er soll mich in Ruhe lassen.
Ein widerliches Gurgeln, ein Schmatzen, Schlürfen – die Geräusche prügeln auf meinen Kopf ein und verwandeln sich in diese diffuse Schwärze, wie im Kino, wenn langsam das Licht ausgeht und der Film beginnt.
Plötzlich ein Schatten, ein heftiger Ruck reißt mich in die Höhe und zerschmettert mich auf dem harten Untergrund. Und dann bin ich ganz leicht, schwerelos. Ohne jeden Laut legt sich der Schnee auf meine Haut.
Weich.
Kühl.
Liebevoll.
Wie die tröstende Berührung meiner Mutter, wenn ich mir mal wieder das Knie aufgeschlagen hatte.
Weihnachtslieder dringen an mein Ohr, begleitet von dem unwiderstehlichen Duft nach gebratenen Äpfeln und Gemütlichkeit.
Stille Nacht, heilige Nacht …
Und alles fällt mir wieder ein: wie sehr ich dieses Fest geliebt habe. Wie ich es genossen habe, wenn der Duft nach warmen Plätzchen durch die Wohnung zog, wie Ben und ich gemeinsam den Baum schmückten und die Geschenke verpackten. Unser Lachen. Die Abende auf der Couch im Kerzenlicht, nur wir beide. Die Sterne … ich kann sie nicht sehen.
Alles schläft, einsam wacht …
Etwas ist noch da. Ein leises Stöhnen, ein Ächzen, doch ich schiebe es fort. Zu schön ist dieses Lied, das nur für mich gesungen wird.
Schlaf in himmlischer Ruh.
Schlaf in himmlischer Ruh.
Und ich schlafe ein.
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