, Prolog
Altes Ägypten – 2710 v. Chr.
Nicht weit von Ipet entfernt, dem Reich, das den Nil und die Wüste trennt, wartete Ra in menschlicher Gestalt auf seine Kinder.
Sein göttliches Blut floss durch ihre Adern und nun war es an der Zeit, dass sie sich als würdig erwiesen. Ra legte ihnen nacheinander seine Hände an die Schläfen und nahm ihnen alle Erinnerungen der letzten sechzehn Jahre. Alles, was sie erlebt und gefühlt hatten. Selbst die Abschiedstränen der Frau, die ihm diese Kinder geschenkt hatte, versiegten.
Nun, da sie leere Gefäße waren, nahmen sie einander bei den Händen, um eine Verbindung herzustellen. Da sprach Ra zu ihnen und seine Worte manifestierten sich in schwarzer Tinte, die sich auf der Haut der Drillinge abzeichnete. Die Hieroglyphen erzählten die Geschichte der Götter, der Shemayu und ihre eigene, die der Nesweru. Und die Zeichen offenbarten ihnen ihre Bestimmung: das Diesseits von den Shemayu, den verlorenen Seelen der Duat, zu reinigen und Ras Schöpfung zu schützen und zu erhalten. Eher würden sie keinen Frieden finden.
So waren sie geboren, die Soldaten der Sonne.
Zur Unterstützung bei ihrer Aufgabe erhielt jeder der Drillinge einen individuellen Seelenstein, gewonnen aus Ras goldenem Blut und ihrem eigenen menschlichen.
Es war vollbracht und Ra musste seine Kinder verlassen. Als Falke aus Licht und Feuer stieg er in den Himmel empor und die jungen Erwachsenen waren fortan für das Wohlergehen ihrer Welt verantwortlich. Sie ließen sogar ihre Namen hinter sich und wurden fortan Nes, We und Ru genannt, die ersten Nesweru der Geschichte.
1 ‑ Cassey
Heute
Mein Kopf schlägt unsanft gegen die kalte Scheibe des Autos. Stöhnend öffne ich die Hand, um mir schlaftrunken die Augen zu reiben, und lasse dabei mein Handy in den Fußraum fallen. Als wäre dieser Tag nicht schon bescheiden genug.
Blinzelnd versuche ich, mich zu orientieren. Wir haben angehalten. Das war der Grund für meine unfreiwillige Kuscheleinlage mit dem Glas. Durch die Fenster sehe ich eine breite Straße, große kahle Bäume, Laternen und kleine Vorgärten mit übertriebener Weihnachtsdekoration – die perfekte Vorstadt.
Nur ein Haus auf der rechten Seite glänzt durch absolute Schmucklosigkeit. Nein, nicht ein Haus – das Haus. Das Haus, das Papa uns im Internet gezeigt hat. Das Haus, in das wir heute einziehen. Es ist nicht unser erster und bestimmt auch nicht unser letzter Umzug. Das Gefühl, irgendwo heimisch zu sein, werde ich hier in Amerika wohl immer missen.
Ein Räuspern erregt meine Aufmerksamkeit. Die himmelblauen Augen meiner Schwester sehen mich misstrauisch an; ein bisschen so, als hätte ich irgendwas Schräges gemacht oder gesagt. »Was ist?«, frage ich mit vom Schlaf kratziger Stimme und rutsche im Sitz hoch.
Ihre Wangen werden auf einmal rosig und ihre Gesichtszüge verziehen sich leicht angeekelt. »Na ja, du … was hast du geträumt, sag mal? Du hast so …«, sie gestikuliert dabei unbeholfen und bekommt die Sätze nicht auf die Reihe, weil es ihr offensichtlich unangenehm ist. Ich warte und sie holt noch mal Luft. »Es klang schmutzig. Nach … ach komm schon, du weißt, was ich meine, Cass.«
Natürlich weiß ich, was sie meint. Aber ich ärgere sie ein wenig, indem ich schlicht sage: »Sex. Sag doch einfach, es klang nach versautem Sex, Schwesterherz.« Dann schnalle ich mich ab und beuge mich vor, um das Handy aufzuheben.
Sie rümpft die Nase, weil sie solche expliziten Worte aus welchem Grund auch immer nicht mag, und schüttelt den Kopf. Dann streicht sie sich ihr blondes Haar hinters Ohr und beugt sich vor, um ihr Portemonnaie aus dem Handschuhfach zu nehmen. Anschließend steigt sie aus. Wieder an der frischen Luft strecke ich mich erst mal. Die Fahrt hat eine Ewigkeit gedauert und es fühlt sich an, als wären die Wirbel meines Rückens miteinander verschmolzen.
Ein alter Mann, der ein paar Häuser weiter die Hecken seines penibel gepflegten Vorgartens schneidet, wirft uns einen neugierigen Blick zu. Diese Umgebung strahlt so viel Freundlichkeit und Idylle aus, dass ich automatisch skeptisch werde. Niemand würde hier in seinem Nachbarn eine tödliche Gefahr sehen – außer uns.
»Cassey, Natalie! Lasst uns schon einmal ein paar Kisten und das Motorrad in die Garage stellen, bevor der Transporter kommt«, ruft unser Vater, der seinen silbernen Mercedes etwas weiter vorne am Straßenrand geparkt hat und den vollgepackten Kofferraum öffnet. Er hat diesen militärischen Befehlston drauf. Immer. Und diesen selbstsicheren, coolen Gang, als wäre er noch in seinen Zwanzigern statt fünfundvierzig. Dazu die Lederjacke, Bart, Muskeln und zurückgestylte Haare. Er könnte glatt als Mitglied einer Biker‑Gang durchgehen. Fehlen bloß die Tattoos.
Natalie stimmt sofort zu, aber ich winke ab, lehne mich gegen die Beifahrertür ihres roten Pick‑ups und ziehe meine Zigarettenschachtel aus der Jackentasche. »Fangt ihr schon mal an«, nuschle ich dann mit einer Kippe zwischen den Lippen und zünde sie an. Natalie schnappt sich die Zigarette und ich stoße mich empört vom Wagen ab.
»Genug ausgeruht, Cassey! Je schneller wir fertig werden, desto eher können wir es uns gemütlich machen«, tadelt sie mich, legt – nicht wirft, sondern legt – die Zigarette auf den Boden und tritt sie aus.
»Das war meine Letzte, verflucht«, jaule ich und deute mit beiden ausgestreckten Armen darauf.
»Hopp hopp«, sagt sie unbeeindruckt, tätschelt meine rechte Pobacke und grinst aufgeregt. »Wir sind mitten in New York City, Cass.« Anschließend hüpft sie Richtung Garage, die Papa bereits geöffnet hat. Ich verdrehe die Augen. Jedes Mal ist es dasselbe. Erst macht sie einen Aufstand wegen des Umzugs und ist beleidigt, aber sobald wir ankommen, kann sie es kaum erwarten, sich einzurichten und die Umgebung kennenzulernen.
»Das ist die Bronx, aber was soll’s.« Ich schiebe meine schwarze Honda CBR vom Hänger und verstaue sie im hinteren Eck der Garage. Nachdem das Motorrad abgedeckt ist, schüttle ich meine Hände aus und stemme sie in die Hüfte.
»Geht das auch etwas schneller? Wir wollen heute noch trainieren«, bemerkt Papa und stellt einen Karton ab.
Ich atme geräuschvoll aus. »Im Ernst? Können wir nicht …«
»Huhu«, unterbricht mich eine glockenhelle Stimme. Eine heiter grinsende Frau winkt uns vom Bürgersteig aus zu.
»Nachbarn«, grummeln Papa und ich wie aus einem Mund. Manchmal kommen mir diese Nachbarn wie Aliens vor, die perfekte Menschen nachahmen wollen, es dabei aber maßlos übertreiben.
Natalie stellt sich zu uns, und wir warten, bis die Frau mit kurzen, schnellen Schritten bei uns ankommt. Dabei schwingen ihre Hüften ausladend hin und her und die angewinkelten Arme pendeln energisch mit. Das Grinsen ist wie festgenagelt. Sag ich doch: Alien.
»Hi, hi, hallo! Ihr müsst die neuen Nachbarn sein«, ruft sie fröhlich und streckt Papa die Hand entgegen. »Freut mich, euch endlich kennenzulernen. Sie müssen der Vater sein, richtig? Ich bin Fiona Melbrook, zwei Häuser weiter. Das Dunkelgrüne, falls ihr mal vorbeikommen möchtet.«
Ich könnte jetzt schon schreiend wegrennen. Stattdessen beiße ich die Zähne zusammen und versuche zu lächeln; den Schein zu wahren. Gleichzeitig beobachte ich sie wachsam, schärfe meine Sinne und konzentriere mich auf das, was ich wahrnehme. Ein Teil in mir wünscht sich, dass sie eine potenzielle Bedrohung darstellt und wir das Training gleich hier und jetzt absolvieren können, aber ein anderer Teil möchte auch mal normal sein; einen ganzen Tag lang stinknormales und langweiliges Zeug machen – ohne Shemayu.
Auch Papa inspiziert sie, während er kurz ihre Hand drückt und sich knapp als Alexander vorstellt. Dabei wird er genauso wenig spüren wie ich. Keine dunkle Aura, die für eine Shemayu typisch wäre.
Fionas Blick wandert weiter, direkt zu mir. Sie gerät ins Stocken, was zu erwarten war. Dunkelbraunes Haar, Piercings, dunkler Lidschatten, schwarze Lederjacke, Tattoos … für sie muss ich auf den ersten Blick wie eine Kriminelle wirken. Nicht, dass mich Vorurteile wegen meines Äußeren jemals gekümmert hätten.
Miss Alien fängt sich erstaunlich schnell und reicht mir ihre Hand. »Hi, nett dich kennenzulernen.«
»Cassey«, antworte ich knapp und gehe widerwillig auf den Händedruck ein, der ganz schnell wieder vorbei ist. Rasch wendet sie sich Natalie zu. Die passt ihr natürlich direkt besser ins Muster und löst ihre Anspannung. Sie ist das totale Gegenteil von mir. Eine zarte Schönheit aus Pastell, auffallend und doch sehr dezent. Wunderschönes Lächeln, wallendes Haar und elegante Kleidung in hellen Tönen – genauso warmherzig und heiter im Inneren. Schlichtweg ein braves Vorstadtmädchen.
»Natalie, hi«, macht meine Schwester diesmal den Anfang. »Danke für Ihre herzliche Begrüßung. Wir sind gerade erst angekommen.«
Fiona strahlt bis über beide Ohren und tritt einen Schritt zurück. »Ja, das sieht man. Ihr habt einiges zu tun. Also wenn ihr Hilfe benötigt … Sagt mal, was ist das für ein Akzent, den ich da heraushöre?«
»Russisch, wahrscheinlich«, entgegnet Natalie offen.
»Oh, wow. Freut mich, vielleicht könnt ihr mir …« Auf einmal bricht sie ab, schlägt die Hände vor der Brust zusammen und macht große Augen. »Ja kneif mich doch einer …«, raunt sie und schaut zwischen Natalie und mir hin und her, »Ihr seid ja Zwillinge. Ach, wie schön! Ich finde Zwillinge so süß.«
Innerlich verdrehe ich die Augen.
»Wissen Sie, ich hätte ja auch gerne Zwillinge gehabt, um ihnen süße Outfits anzuziehen und einfach gleich zwei der süßen Sorte zu haben. Das muss doch ein Segen für Sie und Ihre Frau sein. Apropos Frau, wo ist die denn?«
Papa räuspert sich augenblicklich. »Wissen Sie, Fiona, wir sind Ihnen wirklich sehr dankbar für Ihren Besuch, aber …«, sagt er ausweichend, während er sie gekonnt mit einer Hand an ihrem Rücken zum Bürgersteig lotst. Kaum sind sie außer Hörweite, drehe ich mich zu Natalie um und blinzle – benommen von dem Hurrikan in Menschengestalt, der gerade über uns hinweggefegt ist. »Das halte ich nicht aus.«
»Wenn du keine Nachbarn haben willst, musst du alleine in die Wüste ziehen.«
»Schön! Mache ich«, zische ich. »Alles ist so perfekt und wir helfen uns allen gegenseitig und vielleicht trifft man sich mal auf ‘nen Kaffee und oh und uh«, äffe ich Fiona mit gehobener Stimme nach und falte dabei wie sie meine Hände vor der Brust.
Natalie versucht, ernst zu bleiben, kann sich ein Schmunzeln aber nicht verkneifen.
»Ha«, rufe ich und deute auf ihren Mund.
»Pscht«, zischt Natalie warnend, zieht meine Hand runter und blickt zur Straße hinab. Perfekt getimt. Fiona sieht zu uns herüber und blitzschnell wenden wir uns ihr lächelnd zu und winken. Sie erwidert die Geste, schüttelt Papa noch mal die Hand und geht dann ihres Weges. Solange sie in unserem Blickfeld ist, verharren Natalie und ich in dieser albernen Position, weil wir daraus eine Art Spiel gemacht haben. Wer als Erstes gegenüber Nachbarn seine Fassung verliert, muss als Alien verkleidet von Tür zu Tür gehen, den Leuten Helme aus Alufolie mit Antennen auf den Kopf setzen und sagen: »Zehn Dollar für diesen Schutzhelm und ihr Gehirn ist vor Aliens geschützt.«
Als sie weg ist, sacken meine Schultern sowie Mundwinkel herab und ich stöhne. »Das kostet mich jetzt schon meine ganze Kraft.«
»Schauspielerin«, bemerkt Natalie grinsend und geht zur Ladefläche ihres Wagens, von der Papa bereits drei Kisten geholt hat.
Und wieder einmal geht es ans Kistenauspacken. Es gehört mittlerweile zu unserem Leben, zu unserer Berufung. Wir wandern wie Nomaden von Stadt zu Stadt und befreien diese von Shemayu, den Seelen ehemals Verstorbener, die der Unterwelt namens Duat entspringen und dazu verdammt sind, Unschuldige zu quälen und Apophis‘ Chaos auf die Erde zu bringen.
Das Handbuch der Krylowi: Einleitung
Überarbeitet und ergänzt von Alexander Iwanowitsch Krylow
Ra (oder Amun‑Re) ist der Schöpfer‑/ Sonnengott mit dem allsehenden Auge, welcher sich selbst, unsere Erde und die Götter aus seinem Schatten, die Menschen aus seinen Tränen und schließlich aus seinem Blut uns Nesweru erschaffen hat.
Der Schlangengott Apophis (oder Apep) entstand aus dem Speichel der Göttin Neith, der in das Urgewässer Nun tropfte. Er wurde von den Göttern missachtet und verbannt, sodass er in den Gewässern der Unterwelt (altägyptisch: Duat) lebte. Er verkörpert Auflösung, Finsternis und Chaos zugleich. Sein Ziel war es, die Götterschöpfung zu vernichten und eine neue Duat zu erschaffen. Dazu griff er Nacht für Nacht Ra auf seiner Sonnenbarke an, um den Aufgang der Sonne zu verhindern und die Welt ins Chaos zu stürzen. In den Legenden wird Apophis als Symbol der Wiedergeburt gesehen, da dieser von mehreren Göttern ermordet wurde, doch stets lebend zurückkam – bis Ras Tochter Bastet ihn endgültig vernichtete. Dabei entstand ein Riss in der Unterwelt, der bis heute fortbesteht und Apophis‘ Handlangern, den Shemayu, einen Weg ins Diesseits ebnet. In der Menschenwelt verfolgen sie Apophis‘ Wunsch nach einer neuen Duat, was die Nesweru zu verhindern versuchen.
Der Krieg der Götter wird demnach heute im Diesseits zwischen Nesweru und Shemayu ausgetragen.m das kleine goldene Wappen von Fia
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