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Leseprobe zu Odins Ruf - Verblasste Erinnerung

  • Autorenbild: Lisa und Anna
    Lisa und Anna
  • 20. Dez. 2024
  • 14 Min. Lesezeit





Kapitel 2

 

Hester schließt die Tür, dreht den Schlüssel herum und steuert ohne zu zögern auf ihr Fenster zu. Mit zitternden Händen öffnet sie es und wirft einen Blick hinaus. Übelkeit kriecht ihre Kehle empor, ihr wird ein wenig schwummrig, als der Boden vor ihren Augen verschwimmt. Vielleicht ist es doch eine dumme Idee, aus dem zweiten Stock klettern zu wollen, andererseits gefällt Hester der Gedanke, mit einem übernatürlichen Wesen, das Menschen entführt und festhält, in einer Wohnung sitzen zu müssen, noch weniger.

Wer weiß, weshalb Ilaria so unbedingt will, dass sie hierbleibt? Huldren ist nicht zu trauen.

Ein heftiger Schmerz lässt ihren Körper erbeben. Dass sie ihre beste Freundin jemals so nennen würde, dass ihr Vertrauen so plötzlich in tausenden Scherben vor ihr liegt … Diese ganze Situation ist irrsinnig. Dass es diese Wesen wirklich gibt, dass die Geschichten nicht nur Geschichten sein sollen …

Schnell schiebt Hester diesen Gedanken beiseite und wendet sich dem Hof zu, der sich vor ihrem Fenster erstreckt. Ihr Blick wandert an der Regenrinne hinab bis zum unteren Balkon. Von diesem aus wäre es kein Problem mehr, auf den Asphalt zu springen, doch die schwindelerregende Höhe lässt Hester zitternd zurückweichen. 

Sie schließt die Augen, atmet tief durch. Eines ist ihr völlig klar: Wenn sie sich noch länger Zeit lässt, wird Ilaria misstrauisch werden. Ein letztes Mal drückt Hester den beruhigenden Edelstein in ihrer Tasche, dann schultert sie ihren Rucksack und schwingt das erste Bein aus dem Fenster. Mit pochendem Herzen klammert sie sich an die Regenrinne – ihre Hände hinterlassen feuchte Abdrücke auf der kühlen Oberfläche. Den Blick starr an die weiße Hauswand gerichtet, stemmt sie ihren zweiten Fuß dagegen und hängt nun mit rasselndem Atem an der festen eisernen Rinne. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.

Obwohl ihre Sicht verschwimmt und Tränen der Verzweiflung über ihre Wangen rinnen, lässt Hester sich vorsichtig hinabgleiten. Sie kann kaum glauben, was sie hier tut. Was wohl passiert, wenn Ilaria ihr Verschwinden bemerkt? Wird sie ihr folgen?

Schnell verdrängt Hester diesen Gedanken wieder, konzentriert sich darauf, nicht abzurutschen. Aus dem Augenwinkel erkennt sie, dass sie das Meiste der Strecke schon hinter sich gebracht hat, überlegt für einen kurzen Moment, ob sie nicht gleich den ganzen Weg herunterklettern sollte.

Doch dann fällt ihr wieder ein, dass der Balkon definitiv die sichere Alternative ist, die Regenrinne war im unteren Teil schon immer etwas wacklig. Sie hangelt sich weiter, bis ihre Hände das weiße Geländer zu fassen bekommen.

Mit rasendem Herzen graben sich Hesters Finger um das eisige Material. Sie muss ihre ganze Kraft aufbringen, um ein Bein darüber zu schwingen. Wenige Sekunden später landen ihre Füße auf dem sicheren Balkon.

Für einen Augenblick erstarrt Hester, braucht einen Moment, um sich zu fassen. Dann hastet sie weiter, spürt den Druck auf ihrem Herzen, den Ilarias Verhalten hinterlassen hat. 

Sie muss aus ihrem eigenen Zuhause flüchten, vor einer Huldra! Es wäre ihr lieber gewesen, keine Bekanntschaft mit den Wesen der nordischen Mythologie zu machen. Die Vorstellung, dass unter all den gewöhnlichen Menschen auch solche Gestalt

en leben …

Ihre Gedanken springen zu Malvik und dem, was vor ihr liegt. Schnell hievt Hester sich über den Balkon, der sie nur wenige Meter vom Boden trennt, und lässt sich fallen. Ihre Arme rudern nutzlos in der kalten Luft, bis ihre Füße auf dem weichen Rasen aufkommen.

Obwohl der Aufschlag gedämpft ist, schießt ein scharfer Schmerz durch ihre Beine. Hester beißt die Zähne zusammen, unterdrückt ein leises Stöhnen. Sie richtet sich auf, taumelt, zwingt sich dennoch dazu weiterzulaufen.

Die Schnallen des Rucksacks hängen inzwischen völlig schief an ihren Schultern. Hester huscht durch die offene Gartentür und stolpert heftig atmend auf die Straße, um einem der dort wartenden Taxen zuzuwinken. Sie hat Glück, gleich das erste Auto bleibt vor ihr stehen.

Hester springt hinein, nennt die Adresse und schon braust der gelbe Wagen Richtung Bahnhof. Während sich der Taxifahrer auf die Straße konzentriert, bindet sie ihre Haare zu einem lockeren Dutt. 

Ein wenig Anspannung fällt von ihr ab. Nicht viel, aber trotzdem genug, um zu verstehen, was die letzten Minuten passiert ist. Der Schock in ihren Knochen weicht allmählich und ihr Herzschlag beruhigt sich, während ihre Gedanken wieder zu Malvik gleiten, dennoch kann sie das Zittern ihrer Hände nicht unterdrücken.

Mit einem leisen Seufzen streicht Hester sich die lockeren Strähnen aus dem Gesicht und wirft einen Blick aus der Fensterscheibe. Der Verkehr wird immer dichter. Große, hohe Backsteingebäude erheben sich neben den befüllten Straßen und auf den Gehwegen wimmelt es nur so von Menschen.

Sie hasten über die Ampeln, ohne auf deren Farbe zu achten, verschwinden durch Türen, die von in dunklen Anzügen gekleideten Männern bewacht werden.

Der Kloß in ihrem Hals wird immer größer. Sie wirft einen sporadischen Blick auf ihre Armbanduhr. Es wird knapp werden, den Zug rechtzeitig zu erwischen. Hester hat Schwierigkeiten mit Pünktlichkeit, auch damals schon, als ihre Familie noch auf sie aufpassen konnte.

Ob alles anders gelaufen wäre, hätte sie ihre Eltern nach wie vor an ihrer Seite? Hester presst die Lippen aufeinander. Da ist sie wieder, die Übelkeit, die sie vorhin schon einmal überfallen hatte.

Sie schließt die Augen, will nicht weiter darüber nachdenken, was eben passiert ist.

 ***

Der Bahnhof wimmelt nur so vor fremden Menschen und Hester macht sich klein, in der verzweifelten Hoffnung, mit der hektischen Menge zu verschmelzen. Sie weiß nicht, ob Ilaria ihr auf der Spur ist, aber um nicht aufzufallen, versucht sie, ständig in Bewegung zu bleiben. Weicht Koffern aus. Drängt sich durch eine Gruppe laut diskutierender Italiener.

Doch das beklommene Gefühl, gefangen zu sein, lässt sich nicht abschütteln. Hester kann sich nicht daran erinnern, Ilaria – oder wie das Wesen wirklich heißen mag – mitgeteilt zu haben, welchen Zug genau sie nimmt, wohin er gehen soll. Vielleicht, nur vielleicht, ist sie gar nicht dazu gekommen. Dann müsste sie jetzt nur ein wenig Glück haben, dass Ilaria sie nicht findet, bis sie den Bahnhof verlässt.

Mit klopfendem Herzen schlüpft Hester an einem beleibten Mann vorbei. Schweißperlen rinnen seine Wangen hinab. Er wirkt verzweifelt. Normalerweise würde Hester fragen, ob sie ihm helfen kann, aber die Angst in ihrem Inneren treibt sie voran. Sie sieht nicht einmal zurück. Läuft weiter. Vorbei an einem kleinen Bäcker. Vorbei an dem abgedunkelten Souvenirshop. Stets ihren abgehakten Atem im eigenen Ohr. Ihr Blick huscht hektisch hin und her.

Hester hat die meisten Gesichter wie immer bereits vergessen, aber Ilarias würde sie überall erkennen. Sie hatten sich damals zufällig auf einer Reise durch Irland kennengelernt und sofort gut verstanden – wobei Hester inzwischen daran zweifelt, dass dieses Treffen nicht beabsichtigt war. Außerdem ist ihr jetzt völlig klar, dass die Freundlichkeit nur ein Bruchteil von Ilarias eigentlichem Charakter ist.

Ein Schauer rennt ihren Rücken hinab. Darüber nachzudenken, raubt ihr wertvolle Zeit. Obwohl es ihr schwerfällt, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, wirft sie einen Blick auf die riesige elektrische Anzeige über den sechs Gleisen. 4. Sie muss zu Nummer 4. Mit vor Konzentration gerunzelter Stirn klammert Hester sich an der Schnalle ihres Rucksacks fest, der locker über ihrer linken Schulter hängt. Sie hat nicht einmal gemerkt, wie der rechte Träger hinabgerutscht ist.

Mit zügigen Schritten steuert sie auf ihr Gleis zu. Drei Minuten noch. Hester schluckt. Sieht sich ein letztes Mal nervös um – nichts. Wenn Ilaria sie bisher nicht eingeholt hat, wird sie es auch nicht mehr tun. Es ist eine schwache Hoffnung, an die Hester sich da klammert, doch sie tut es, ohne weiter darüber nachzudenken.

Verschiedenste Gefühle brodeln an die Oberfläche, aber sie schafft es, nur eines davon zuzulassen: Aufregung. Was wird sie erwarten? Trockenheit breitet sich in ihrer Kehle aus. Ein verkümmertes Husten verlässt ihre Lippen, doch niemand beachtet sie. Was ihr allerdings nur recht ist, Hester hat die Aufmerksamkeit anderer Menschen noch nie gemocht. Je weniger jemand über sie weiß, umso ungefährlicher. Umso weniger Angriffsfläche. Obwohl es sie beschämen sollte, Konflikten so leicht aus dem Weg zu gehen, hat Hester diese Vorgehensweise nie bereut. 

Sie atmet tief durch. Denkt wieder an Malvik. Wie er wohl gelebt hat? Welche Pläne er für sein Leben hatte? Hat er einmal an sie gedacht, nur ein einziges, einziges Mal? Doch tief in ihrem Inneren weiß Hester, dass sie die Antwort gar nicht hören will. Die Enttäuschung, die sie entfachen könnte, wäre zu groß.

Ein schmerzhafter Stich gräbt sich durch ihr Herz und nur mit viel Mühe schafft Hester es, sich nicht hundert schreckliche Gespräche auszumalen, in denen Skadi ihr sagt, wie froh Malvik gewesen ist, sie nicht mehr sehen zu müssen. Sein eigenes Leben zu haben.

Sie kneift die Augen zusammen, reibt sich über die pochende Schläfe. Solche Gedanken bringen nur Dunkelheit mit sich. Dunkelheit, gegen die Hester bereits seit Jahren ankämpft. Doch manchmal wird sie von ihr verschlungen und dann gibt es nichts mehr, dass ihr helfen kann.

Das laute Pfeifen eines einfahrenden Zuges befreit Hester von den schmerzvollen Krallen ihrer Gedanken. Sie reißt den Kopf hoch. Auf den rostigen Gleisen rollt ihr Zug herbei. Langsam, aber dennoch schnell genug, um ein Leben nehmen zu können, legte man es darauf an. Er hält quietschend an und die Türen öffnen sich. Noch einmal dreht Hester sich um, blickt zurück. Während sie das Gefühl haben müsste, ihr Zuhause hinter sich zu lassen, verliert sie sich immer stärker in dem Eindruck, dass dies hier nur ein Zwischenstopp war. Das sie an einen völlig anderen Ort gehört.

Hastig und mit hoch erhobenem Kopf steigt Hester ein. Die Gestalten der ausgestiegenen Gäste verschwinden hinter den dunklen Scheiben. Umdrehen ist keine Option mehr. Trotz ihrer Nervosität vor der Reise ins Unbekannte schleicht sich eine gewisse Ruhe durch ihre Adern, als Hester ihren Platz sucht. Zugfahren war für sie schon immer etwas Schönes. Etwas, bei dem sie sich entspannen und ein paar Stunden die Augen schließen kann.

Amalia, ihrer Mutter, ging es immer ähnlich. Hester atmet tief durch. Diese Erinnerungen gehören nicht hierher. Nicht jetzt. Vielmehr sollte sie sich auf das Treffen mit Skadi vorbereiten. Sie hat kaum etwas über sich verraten, nur, dass sie Hester gerne kennenlernen und vom Bahnhof abholen würde.

Der Zug fährt los und der letzte Zweifel, Ilaria nicht zu entkommen, erstickt im Keim. Hester weiß nicht, wie es sein kann, dass solche Wesen wie Huldren existieren, auch wenn ihre Mutter stets daran geglaubt hat. Und sie weiß auch nicht, wer Ilaria befehlen sollte, auf Hester aufzupassen – geschweige denn, warum. Aber Hester beginnt, sich einzureden, dass es in diesem Augenblick keine Rolle spielt. Weil die Liebe zu ihrem Bruder über allem steht. Auch, wenn sie ihn nun niemals mehr in die Arme schließen kann.

Sie schluckt den Kloß in ihrem Hals hinunter und betritt ihr Abteil. Zum Glück ist sie nicht vollkommen allein in der schmalen, hellen Ecke. Ein älterer Mann sitzt an der Tür, hat die Augen geschlossen und schnarcht leise. Sein buschiger weißer Bart hängt ihm bis zu der Brust hinab, wird von einer goldenen Brosche zusammengehalten. Tiefe Narben winden sich über sein Gesicht. Er wirkt nicht gebrechlich, nein, eher faszinierend und ein wenig einschüchternd.

Ein Lächeln huscht über Hesters Lippen. Er muss nicht mir ihr sprechen – zu wissen, dass sie nicht allein ist, genügt.

Ganz leise schleicht sie zu ihrem Fensterplatz, legt den Rucksack neben sich ab und setzt sich.

Die Fenster sind groß und sauber, die Sitze von einem dunkelblauen, weichen Stoff überzogen. Hester schlüpft aus ihren Schuhen, schiebt sie ordentlich an die Wand und verschränkt die Arme.

Ihr Blick gleitet zu der wunderschönen vorbeiziehenden Landschaft. Sie haben den grauen Bahnhof bereits hinter sich gelassen. In der Ferne erheben sich gewaltige Gipfel, überzogen von weiß glänzendem Schnee. Die Gleise führen durch die Natur, Häuser entdeckt Hester nirgends. Grüne Büsche überwuchern das breite, flache Tal, kleine Flüsse haben sich neben ihnen gebildet, fließen durch die Erde.

Der Zug streift die Äste einer riesigen, alten Eiche, doch von den zerknickten Zweigen abgesehen scheint der Baum vollkommen gesund zu sein.

Hester lehnt sich zurück. Unternimmt nichts gegen das zittrige, erschöpfte Lächeln, das an ihren Mundwinkeln zupft. Schließt die Augen und lässt zu, wie ihre Lider von Minute zu Minute schwerer werden, bis sie in einen unruhigen Schlaf fällt.

 


Kapitel 3


Tiefe, verzweifelte Schreie verankern sich schmerzhaft in Hesters Ohren, bis sie sich nicht anders zu helfen weiß, als beide Hände auf sie zu pressen und zu hoffen, die Stimmen mögen verstummen. Erst nimmt sie nichts weiter wahr, nur das Geräusch von sterbenden Menschen, brechenden Knochen und aufeinanderprallenden Schwertern, doch dann formt sich ein mit Blut getränktes Schlachtfeld vor ihr.

Leblose Körper starren mit toten Augen in den Himmel hinauf, während noch feuchter Schweiß auf ihren Stirnen glänzt.

Hester weiß, dass es nur ein Traum sein kann, der sie heimsucht, doch der kalte Tod lässt ihren Körper erbeben. Männer mit langen Schwertern stürmen aufeinander zu, Speere werden geworfen, durchbohren warmes Fleisch.

Aufgescheuchte Pferde donnern über das Schlachtfeld, nur um wenige Sekunden später leblos zu Boden zu stürzen. Sie können nicht fliehen. Keiner hier kann das. Hester selbst steht inmitten des Chaos, kämpft gegen die Übelkeit an, welche über sie hineinbricht. Sie kennt diese Bilder nur zur Genüge – es war Thema im letzten Kunstkurs und obwohl ihre Träume ihr oft schönes bringen, hasst sie es in diesem Augenblick, sich immer so zu fühlen, als würde sie die Dinge tatsächlich erleben. Sie wirbelt herum, versucht, sich an die Realität zu erinnern, um aufzuwachen, wird jedoch von dem hellen Schimmern abgelenkt, das vom schwarzen Himmel hinabgleitet.

Es kommt näher. Wird klarer. Und dann erkennt Hester Frauen mit langen blonden Haaren auf weißen Pferden,  die auf das Schlachtfeld hinabsinken. Goldene Speere glänzen in ihren Händen. Sie funkeln trotz der Dunkelheit, welches die sterbenden Körper umhüllt, doch außer Hester scheint niemand ihre Anwesenheit zu bemerken.

Sie schweben gezielt auf die Männer herab, die gerade ihren letzten Atemzug nehmen, greifen ihre Arme und ziehen die Seelen auf die starken Rösser. Walküren. Hester hat die Sagen über diese mächtigen, einflussreichen Frauen schon immer geliebt.

Mit der Aufgabe, die in Ehre gefallenen Toten nach Walhalla, der Totenwelt der Götter, zu führen, sind sie die Schutzengel der Sterbenden. Unentbehrlich für das Weltenende, denn all die gesammelten Seelen kämpfen in der großen letzten Schlacht an der Seite der Götter gegen das Böse.

 

Es war die erste Sage, die Hesters Mutter ihr aus der nordischen Mythologie vorlas. Hester hat sich immer gefragt, ob es nicht einen Hauch von Dramatik birgt, mit dem Ende zu beginnen.

 

Sie atmet tief durch. Immer wieder stoßen die Walküren hinab, halten Ausschau nach würdigen Kämpfern. Wer vor der Herausforderung davonrennt, hat bereits verloren. Irgendwann verblasst das Schlachtfeld und Hester ist versucht, erleichtert aufzuatmen, als sich ein neuer Ort vor ihrem geistigen Auge formt.

Ein riesiger, in der Sonne glänzender Palast erscheint, durch dessen Fenster Hester erkennen kann, was hinter ihnen vor sich geht. Drei Gestalten stehen in einem weiten, leeren Raum, scheinen wild zu diskutieren. Die weißen Säulen schimmern, werden durchbrochen von spielerischen Malereien der Äste einer uralten Esche.

»Die Nornen! Sie haben es gesagt, Thor. Sie haben uns gesagt, dass wir unsere Schachfiguren auf der Erde bald platzieren müssen!«, ruft eine junge Frau gerade und wirft empört die Hände in die Luft. Der dritte Mann räuspert sich laut. »Wir werden tun, was die Schicksalsweberinnen uns auftragen. Sie wissen um das Schicksal der Welt.«

»Gut, gut. Von mir aus, ich halte mich zurück. Aber wie? Und wen?«, erwidert Thor, presst die Lippen aufeinander. Doch der dritte Mann bringt ihn mit einem scharfen Blick zum Schweigen. Würde Hester es nicht besser wissen, würde sie glauben, von seinen Augen durchbohrt zu werden. »Manches ist nicht für jedermanns Ohren bestimmt.«

Damit wird Hester von dem prachtvollen Ort fortgerissen. Obwohl sie ihre Träume gerne analysiert, glaubt, hinter allem eine verdeckte Bedeutung zu sehen, will sie in diesem Augenblick nur aufwachen. Aber die Bilder geben sie nicht frei.

Die Mauern mehrerer kleiner Häuser umschließen sie. Es scheint eine leblose Stadt zu sein, die Straßen sind menschenleer. Grobe Steine zieren die schmalen Wege.

Hester schlendert zwischen den Häusern hindurch, wundert sich über diesen so ruhigen Traum. Doch je weiter sie geht, umso klarer wird ihr, was hier nicht stimmt: An jeder Ecke, nach jedem Haus sitzt ein Rabe auf der Dachrinne, dem Straßenschild oder erhebt seine Schwingen über ihrem Kopf. Und auf irgendeine Weise kommt ihr diese Stadt bekannt vor. Sie spürt die Vertrautheit, aber die Umgebung ist nicht greifbar.

Bald schon stößt Hester auf die ersten Menschen, doch sie würdigen sie keines Blickes. Vielleicht sehen sie sie nicht, vielleicht wollen sie Hester auch nicht sehen. Beides würde sie nicht stören.

Sie wandelt langsam durch die verwinkelten Gassen, mustert die Türen und Fenster, bis sie vor einem Anwesen stehen bleibt, das einen anziehenden Sog auf sie ausübt, dem sie nicht entkommen kann. Das unheimliche Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben, keimt in ihr auf.

Und dann, als eine junge Frau auf der Türschwelle erscheint, beginnt das Tattoo in Form zweier Raben auf Hesters Brust schmerzhaft zu pochen.

Die langen blonden Haare der Frau fallen ihr in sanften Wellen über die dünnen Schultern. Ihre Gesichtszüge sind makellos, wunderschön – doch die Augen sind schwarz, schwarz wie die Federn eines Raben. Sie schreien nach Tod, Unglück.

Hester stolpert zurück. Und da schwellen Stimmen in ihren Ohren an, laut, verzerrt, schmerzhaft. Verschwinde, Verschwinde, Verschwinde, sonst wirst du sterben … Der schreckliche Klang wird schriller, krallt sich in ihrem Herzen fest, lässt sie nicht mehr gehen.

Hester verkrampft sich, versucht verzweifelt, sich diesem unheimlichen Bann zu entziehen. Obwohl sie weiß, dass es nur ein Traum ist, gehen ihr die Schreie durch Mark und Bein. Hester ist nicht klar, was all das zu bedeuten hat, konzentriert sich angestrengt darauf, aufzuwachen und diesen schrecklichen Ort zu verlassen.

Nur weg von hier. Sie greift nach dem Amethysten um ihren Hals, der eigentlich einen guten Schlaf bescheren sollte, spürt, wie seine Energie durch ihre Venen fließt, und zwingt sich dazu, die Augen zu schließen.

Der laute Knall links von ihr lässt sie zusammenfahren. Ihr ganzer Körper bebt, aber die Stimme ist verklungen.

Blinzelnd wagt es Hester, ihre Umgebung zu mustern. Sie ist wieder in ihrem Zugabteil. Das halb geöffnete Fenster neben ihr scheint den Knall ausgelöst zu haben, welcher  sie in die reale Welt zurückgeführt hat. Es klappert im rauschenden Wind und mit zitternden Beinen erhebt Hester sich, um es zu schließen.

Der Schock hat sich tief in ihren Knochen eingenistet. Sie hat selten Albträume, eigentlich nie. Und diese vielen Raben … Als würde ihr Unterbewusstsein eine dringende Nachricht an sie senden. Hester legt die Hand auf das Tattoo auf ihrer Brust. Was hat das alles nur zu bedeuten? Welches Geheimnis hat Malviks Tod nur ausgelöst?

Kopfschüttelnd lässt sie sich wieder in das weiche Polster sinken, stockt mitten in der Bewegung. Mit einer dunklen Vorahnung sieht Hester auf den Platz an der Tür – er ist leer. Wohin ist der alte Mann, der dort saß, als sie eingestiegen ist, verschwunden? Der Zug hat die letzten Stunden kein einziges Mal gehalten. Was, wenn er in den nächsten Minuten nicht auftaucht?

Hester schluckt, reibt sich die zitternden Hände. Haben sie diese komischen Träume etwa so durcheinandergebracht, dass sie sich einbildet, Menschen würden vor ihrer Nase verschwinden?

Mit klopfendem Herzen steht sie auf, wagt sich etwas näher an den Sitz heran. Ein vergilbtes Bild liegt auf dem durchgesessenen Polster. Hester beugt sich darüber, spürt einen magischen Sog, der sie unentwegt auf das Foto starren lässt. Auch wenn sie es wollte, sie kann sich nicht von dem Anblick lösen.

Das Bild zeigt zwei große majestätische Raben, die um eine knorrige Esche kreisen. Hester erkennt den breiten Stamm – es ist Yggdrasil, die Weltenesche der nordischen Mythologie. Warum hat der alte Mann es dabei? Und warum hat er es liegengelassen?

Wie von selbst gleiten ihre Fingerkuppen über die gewellte Oberfläche. Es muss ein sehr altes Bild sein. Völlig von den beiden Raben gefesselt nimmt Hester es hoch, sieht, dass auf der Rückseite etwas geschrieben steht. Neugierig dreht sie es um.

Mit einem leisen, erschrockenen Keuchen lässt Hester das Papier fallen, als hätte sie sich verbrannt. Lind.

Weshalb ist dort ihr Nachname mit Bleistift in krakeliger Handschrift darauf verewigt? Schwindel lässt sie schwanken, ihr Kopf fängt an, schmerzhaft zu pochen.

Hester taumelt nach hinten, sinkt kraftlos zurück auf ihren Platz. Sobald das Motiv nicht mehr in ihrem Blickfeld ist, sie sich der merkwürdigen Anziehung entziehen kann, beruhigt sich das Pulsieren in ihrem Kopf schlagartig.

Sie schluckt nervös. Was bei Odin ist da passiert? Hester kann es sich beim besten Willen nicht erklären, versucht hastig, diesen gespenstischsten Augenblick aus ihrer Erinnerung zu verdrängen.

Ihr Atem geht schnell, unregelmäßig. Um sich abzulenken, zieht Hester ihr Handy aus der Tasche und mustert den Fahrplan. Sie muss einiges verschlafen haben, es sind nur noch wenige Minuten bis zu ihrem Ziel. Nur noch wenige Minuten, bis sie Skadi treffen und das Zuhause ihres Bruders kennenlernen wird.

Ein nervöses Kribbeln breitet sich in ihren Fingerspitzen aus. Unruhig besinnt sie sich wieder auf das Wesentliche, lässt den merkwürdigen Traum ziehen und sieht nicht noch einmal zu dem leeren Platz hinüber.

Warme Sonnenstrahlen tanzen auf Hesters blassem Körper, vermengen sich mit dem hellen Ton ihres Haares. Trotz des dicken, grauen Pullis dringt die Hitze bis zu ihrer Haut vor.

Sie lächelt zaghaft. Merkt, wie ihr Handy vibriert. Es ist Skadi – sie wird bald am Bahnhof antreffen und an Hesters Gleis warten. Augenblicklich beschleunigt sich Hesters Herzschlag wieder. Sie wippt auf und ab, versucht, die aufkeimenden Gefühle zu unterdrücken.

Es ist nicht das erste Mal, dass sie sich auf eine Reise einlässt, ohne das Ziel zu kennen, doch das hier übersteigt ihre Erfahrungen bei Weitem. In diesen Gedanken versunken ziehen die restlichen Minuten in Windeseile an Hester vorbei, bis das laute Quietschen der Bremsen sie zurück in die Wirklichkeit holt.

Hastig schnappt sie sich ihren Rucksack, umklammert fest das Handy in der linken Hand und sieht zur Tür. Der alte Mann ist nicht zurückgekehrt. Sie schluckt und läuft zielstrebig aus dem Abteil, will dieses bedrückende Gefühl hinter sich lassen.

Leider ist sie nicht die Einzige. Etliche verschwitzte Leiber drücken sich aneinander vorbei, geplagt von der Angst, der Zug würde weiterfahren, bevor sie den Bahnsteig betreten können, andere wiederrum so langsam, dass sie alle aufhalten. Genervtes Stöhnen hängt in der stickigen Luft, ungeduldige Handbewegungen treffen aufeinander.

Mit zusammengepressten Lippen wartet Hester auf eine Lücke, um dem Gedränge zu entfliehen. Das Aussteigen ist Etwas, das ihre Nerven auf die Zerreißprobe stellt. Die Dummheit und Ungeduld anderer sind nur schwer zu ertragen. Langsam verteilen sich die Massen und nach wenigen Wimpernschlägen ist es nur noch Hester, die am Steig steht. Ihre zitternden Hände krallen sich an den Riemen ihres Rucksacks fest. Sie fühlt sich verloren an diesem so fremden Ort, den sie nur aus dem einen traurigen Grund besucht. Hester hebt den Kopf und hält Ausschau. Nur wenige Wartende werden von ihrem Blick erfasst – unter ihnen ein blinder alter Mann, eine Frau mit Baby und ganz hinten, an der grauen Wand lehnend, ein junges Mädchen.


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