Kapitel 2
Danse à la lumière du feu
Tanz im Feuerschein
In seinen Träumen wandelte Leo ziellos über den Platz vor dem Palais Royal. Verzweifelt suchte er François, aber er fand nichts als leere Gesichter, die teilnahmslos durch ihn hindurchblickten. Irgendwann lichtete sich die Menge. An den Ausgängen sammelten sich mehr und mehr Männer, die alle das Gesicht der beiden Bettler trugen, denen er am Tag zuvor die Almosen gegeben hatte. Sie kamen unaufhaltsam näher und Leo griff nach etwas, mit dem er sich verteidigen konnte, aber fand nur das rote Buch, das sich in seinen Händen zu Asche verwandelte.
Mit einem Schrei wachte er auf. Über sich sah er Feuer. Der blaue Baldachin über seinem Bett brannte, aber die Flammen waren kühl und erreichten ihn nicht. Bevor er sich umschauen konnte, öffnete er die Augen. Der blaue Samtstoff war unberührt – es war also auch nur ein Traum gewesen. Sein Herz wollte sich aber noch nicht beruhigen. Sein Oberkörper war mit Schweißperlen bedeckt, weshalb der frische Luftzug, der durch eines der Fenster wehte, ihn frösteln ließ und er sich die Decke bis zum Hals zog. Er spürte, wie sich eine warme Hand um ihn schlängelte und blickte in François‘ schläfrige Augen.
»Was ist los?«, fragte sein Freund und gähnte leise.
»Nur ein Albtraum.« Leo rang sich zu einem Lächeln durch und kuschelte sich in die Umarmung.
***
»Lionel! Was macht François hier?« Seine Mutter stellte die Teetasse mit einem Klirren auf das Porzellan und bedachte die beiden jungen Männer mit einem strafenden Blick. »Wir haben heute genug zu tun, da können wir uns nicht noch um Gäste kümmern.«
»Weil du auch sonst so eine hingebungsvolle Gastgeberin bist, ma Chère.« Leo Vater seufzte, ohne von der Gazette hochzublicken.
Leo und François gesellten sich neben Marie an den Tisch. Es war offensichtlich, woher sie und Leo ihre hellen Haare hatten. Ihre Mutter trug die blonden Locken kunstvoll hochgesteckt und grau gepudert, was Leo nicht so recht verstehen konnte. Vielleicht war es gerade die Mode, aber er fand ihre natürliche Farbe schöner. Grau würden sie noch früh genug werden.
»Fühl dich hier trotzdem willkommen, François«, erklärte die Comtesse de la Fayette mit einem süßlichen Lächeln und deutete auf den Platz neben Marie, woraufhin diese errötete.
Mit einer leichten Verbeugung folgte François ihrer Anweisung und Leo setzte sich mit einem Augenrollen neben ihn.
Wirklich ruhig war es im Château de la Fayette selten. Leos Eltern veranstalteten diverse Soirées undin der Zwischenzeit empfingen sie oder seine Geschwister häufig Gäste. Obwohl er froh über die Ablenkung war, wurde es ihm doch manchmal zu viel – ein weiterer Grund, warum er sich gerne zu François und dessen Familie, den Beaumonts, flüchtete. Ihr Schloss war schlichter und gemütlicher. Nur selten organisierten sie luxuriöse Feiern.
»Wo ist Thomas?«, erkundigte sich Leo, während er einen Diener herbeiwinkte, der ihm und François frischen Tee einschenkte.
»Im Gegensatz zu dir verbringt dein Bruder seine Zeit mit sinnvollen Dingen.« Leos Vater legte die Zeitung beiseite und bedachte seinen jüngsten Sohn mit einem prüfenden Blick.
»Gerade ihr solltet verstehen, dass es sehr viel Sinn ergibt, das Leben zu genießen «, erklärte Leo mit gehobenen Augenbrauen, woraufhin ein leises Kichern aus Maries Richtung ertönte.
»Ich hoffe, du nimmst dir kein Beispiel an deinem Bruder, Chérie.«
Die strengen Worte seiner Mutter ließen Marie verstummen. Sie schaute peinlich berührt auf ihren Teller, wobei das Rot ihrer Wangen noch deutlicher wurde.
»Als ob ihr besser wärt«, murmelte Leo und biss lustlos von dem Stück Brioche ab, das er sich aufgetan hatte. Er war froh, dass François die kleinen Streitereien gewohnt war, sonst wäre es ihm unangenehm gewesen. Das Verhältnis zu seinen Eltern war passabel, auch wenn sie ihren Unmut über seine Umtriebigkeit oft genug kundtaten. Da sie ihm aber selten etwas verboten und es bei harmlosen Worten blieb, nahm er ihnen ihre Strenge nicht übel. Abgesehen davon, dass er sie als scheinheilig empfand, denn Kinder von Traurigkeit waren auch sie nicht.
Leo atmete erleichtert auf, als er wohlbekannte Schritte hörte, und kurz darauf sein älterer Bruder in der Tür stand. Mit den braunen Haaren kam er nach ihrem Vater und er war ein Stück größer und kräftiger gebaut als Leo. Sein Mantel und die Reiterstiefel verrieten, dass er nicht plante, ihnen Gesellschaft zu leisten.
»Ich habe den Brief abgeschickt, Maman«, sagte er gutgelaunt und nahm sich im Vorbeigehen ein Gebäckteilchen von einem Tablett. »Ich hoffe, dass ihr Vater mich bald anhört.«
»Er wäre ein Narr, wenn nicht.« Das Lächeln auf dem Gesicht ihrer Mutter war kühl, aber zufrieden. »Mir fällt ein Stein vom Herzen, wenn wenigstens eines meiner Kinder unter der Haube ist.«
Thomas lachte nur, nickte François freundlich zu und lehnte sich neben Leo an den Tisch.
»Wenn Lionel nicht jeden Abend mit einer neuen Liebschaft nach Hause käme und Marie einem Verehrer zur Abwechslung länger als fünf Minuten zuhören würde, müsste Thomas nicht allein die Verantwortung tragen.« Ihr Vater erhob sich vom Tisch und ging an ihnen vorbei zur Tür. »François muss einen schrecklichen Eindruck von uns haben.« Er seufzte erneut und verabschiedete sich.
»Ganz und gar nicht, ich–« Doch François unterbrach sich, denn Leos Vater war bereits außer Hörweite.
»Geht ihr heute Abend zu der Soirée der Villieux? Ich schaffe es nicht – könnt ihr sie von mir grüßen?«, erkundigte sich Thomas und schob sich den Rest seines Gebäcks in den Mund.
»Ist das heute?« Mit großen Augen schaute Marie zu ihrem Bruder.
»Du gehst nicht, Chérie.« In dem Tonfall ihrer Mutter lag etwas Finales.
»Aber Maman!« Flehend blickte Marie zu ihr, doch ihr begegnete nur ein Kopfschütteln. »Ohne einen Chaperon ist es viel zu riskant.«
»François und ich gehen hin, wir können sie mitnehmen.« Leo hatte noch nicht mit seinem Freund darüber gesprochen, ging aber davon aus, dass dieser nichts dagegen hatte. Wie erwartet nickte François.
»Das steht außer Frage. Es gibt wenige, die ungeeigneter wären als du, mon Fils.«
So hart die Worte auch waren, der Ausdruck auf ihrem Gesicht wurde sanfter. »Ich weiß, dass Marie bei dir in guten Händen ist, aber da bin ich vermutlich die Einzige. Dein Ruf könnte ihr schaden.«
Resigniert seufzte Leo und auch Marie schien der Kampfgeist verlassen zu haben.
»Mach dir nichts draus, das nächste Mal nehme ich dich mit.« Thomas zwinkerte ihr freundlich zu und schon fand das Lächeln zurück auf ihr Gesicht.
Auch das Buch, das Leo am Tag zuvor für sie geholt hatte, tröstete sie. Vor Kurzem hatten sie im Theater Figaros Hochzeit gesehen. Ein Stück, dessen romantischer Humor bei Marie viel Anklang gefunden hatte. Das mit Blumenranken verzierte Buch enthielt den Text des Stückes. Leo fand dagegen viel spannender, welchen Skandal die Aufführung vor wenigen Jahren ausgelöst hatte, indem sie schamlos Adelige wie ihn kritisierte.
***
Die Soirée wurde in ein einem edlen pariser Stadthaus nahe des Place Vendôme abgehalten. Leo hatte darauf bestanden, die Pferde anstatt einer Kutsche zu nehmen. Die kühle Abendluft und ein schneller Ritt brachten ihn in Stimmung für die Feier, und da er sich wie so oft dagegen entschieden hatte, sich mit einer der modischen Perücken auszustatten, gab es auch nichts, was dagegensprach. François ging es ähnlich – noch mehr als Leo war er dem Reiten und der Natur zugetan.
Bei der Feier der Villieux handelte es sich um eine der besonders verschwenderischen Soirées, auf denen Mitglieder des Hofes oder manchmal sogar die Königin zu finden waren. Dementsprechend hatte Leo seinen schönsten roten Seidengehrock wie auch eine passende Maske herausgesucht, denn wie auf so vielen dieser Feiern trugen die meisten Gäste etwas, um flüchtig ihre Identität zu verbergen. Während François gerne davon Gebrauch machte, trug Leo das Accessoire meist nur am Handgelenk – ihm machte es nichts aus, wenn Leute sahen, wer er war und mit wem er auf den Feiern Umgang pflegte. Sollte Thomas doch die Last der Familienehre tragen – er würde im Gegenzug dazu seinen Ruf als Bonvivant pflegen.
Der Saal war erhellt von dem warmen Licht hunderter Kerzen. Fröhliche Musik schallte durch den Raum und die Gäste tanzten und lachten, als kannten sie keine Sorgen. Die bunten Kleider und Röcke ergaben ein solch farbenfrohes Bild, dass es an einen Blumengarten erinnerte. Als Leo sich unter die Menge mischte, musste er für einen Moment daran denken, wie es um die meisten anderen Bürger der Stadt gestellt war. Von dem Geld, das diese Feier kostete, hätten Duzende von ihnen ein Jahr lang leben können. Aber der Gedanke war ebenso schnell verschwunden, wie er gekommen war. In diesen Mauern regierte der Überfluss und Leo lebte dafür, ihn zu genießen.
Während er sich durch die Trauben aus fein gekleideten Menschen schlängelte, spürte er zufrieden, wie ihn einige neugierige Blicke trafen. Er achtete darauf, dass sein Rücken gerade, sein Gang elegant und sein Lächeln unwiderstehlich waren. Es gab wenig, das ihn in einen solchen Rausch versetzte, wie zu wissen, dass er die Fantasie der Leute entfachte. Abgesehen vielleicht von den Nächten mit François, der zwar selbstsicher, aber noch lange nicht so effektheischend hinter ihm her ging.
»Wenn du darauf bestehst, den Pfau zu spielen, dann trag das nächste Mal Federn«, tadelte sein Freund ihn und Leo lachte laut.
»Bring mich nicht auf Ideen!«, scherzte er und nahm zwei Gläser von einem Tablett. Er reichte François eins, wobei ein paar Tropfen Champagner über den Rand schwappten.
»Auf einen erfolgreichen Abend!« Leo prostet ihm zu, woraufhin François lächelnd den Kopf schüttelte.
»Ich weiß, von welchem Erfolg du sprichst, und ich bin mir nicht sicher, ob ich dich dazu noch ermutigen sollte.« Fast als wollte sich sein Freund Mut antrinken, leerte er das Glas und nahm sich direkt ein neues, was Leo dazu veranlasste, es ihm gleichzutun.
»Ich habe das Gefühl, dass etwas Bedeutendes passieren wird«, verkündete er ausgelassen.
»Was denn? Dass du dieses Mal mit zwei hübschen Damen – oder Herren – das Bett teilen wirst, statt nur mit einer?« François schien weniger überzeugt als Leo, was dessen Stimmung aber nicht trübte.
Es war etwas Anderes, das sich wie ein Schatten über seine Gedanken legte. Die Karten der Seherin erschienen in seinen Erinnerungen und er versuchte, sie so schnell zur Seite zu schieben wie möglich. Wenn Leo eines konnte, dann sich ablenken und Sorgen mit allerlei Freuden übertünchen. François war der Einzige, der ihn regelmäßig auf den Boden der Tatsachen zurückbrachte, aber dorthin wollte er in diesem Moment gar nicht. Und sein Freund ausnahmsweise ebenfalls nicht.
»Tanz mit mir!« Leo griff grinsend nach seiner Hand.
»Aber wir … du weißt schon – was sollen die Leute denken?«, stammelte François, offensichtlich irritiert von dem Überschwang seines Freundes. Geradeso konnte er noch sein Glas auf eine Anrichte stellen, bevor Leo ihn mit sich zog.
»Die denken gar nichts.« Leo lachte und schaute neugierig auf die Tanzfläche. Der Abend war bereits fortgeschritten genug und Wein und Champagner flossen in Strömen. So war die höfliche Ordnung vergessen und sie waren nicht die Einzigen, die nicht so mit einem Partner tanzten, wie es die Etikette vorsah. Im Gegenteil – die Tanzpartner wechselten schneller, als das Auge begreifen konnte, ob die nächste Zielperson ein Kleid trug oder eine Hose.
Schnell setzte die Erleichterung bei François ein und Leo war glücklich, ein Funkeln in seinen warmen braunen Augen zu sehen. Sie tanzten überschwänglich, wobei Leo führte und sein Freund sich dabei immer näher an ihn schmiegte. Nun ernteten sie doch ein paar skeptische Blicke. Die meisten Schaulustigen waren allerdings viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich darum zu kümmern. Leo spornte das sanfte Rot, das nun François‘ Wangen zierte, noch weiter an und er lehnte sich zu ihm, bis seine Lippen beinahe sein Ohr berührten.
»Vielleicht besteht mein Erfolg auch darin, dich zwei Nächte in Folge in mein Schlafgemach zu führen«, flüsterte er und spürte triumphierend, wie sich der Atem seines Freundes beschleunigte.
Doch die Musik kündigte einen Wechsel an und mit ihr auch eine Rotation der Tanzpartner. François schien erleichtert, Leo spürte aber immer wieder seinen sehnsüchtigen Blick. Dieses Mal tanzte er mit einer hübschen Dame, die er als eine junge Witwe erkannte, von der ihm sein Bruder erzählt hatte. Sie schien sehr zufrieden über die Fügung zu sein und ließ ihn nicht aus den Augen, während er sie mit sicheren Schritten über das Parkett führte.
»Wenn Ihr mich so angesehen hättet wie Euren Freund, wäre ich bereits in Ohnmacht gefallen.« Sie lächelte und zwinkerte ihm zu. Das Rouge auf ihren Wangen ließ nicht erkennen, ob sie tatsächlich errötete und Leo war froh, dass François nichts auf Puder oder Rouge gab.
»Das wäre ganz und gar tragisch, ma Chère!« Leos Augen wurden groß. Er gab sich Mühe, möglichst schockiert auszusehen. »Dann könnte ich schließlich nicht mehr mit Euch tanzen!«
Sie lachten beide und er machte einen geistigen Vermerk, sie auf die Liste derer zu setzen, die er alsbald zu seinen Eroberungen zählen wollte. Jedenfalls sofern ihr Enthusiasmus anhielt. So sehr Leo sich damit rühmte, möglichst viele Errungenschaften zu beglücken, war es ihm doch immer ein Anliegen, dies nur zu tun, wenn es ausdrücklich gewünscht war. Er gab sich also frei und willig, warf sich auch dem Einen oder der Anderen in die Arme, aber sein Bett teilten nur die, von denen er wusste, dass sie um ihn gekämpft hätten, wenn er sie nicht so bereitwillig dorthin eingeladen hätte.
Die Musik wechselte erneut und dieses Mal stolperte Leo beinahe, aber sein Gegenüber fing ihn geschmeidig und begann nun, ihn zu führen, was er auch ohne Protest geschehen ließ. Es war ein Mann, dessen Gesicht ihn an eine griechische Statue erinnerte, so schön und makellos blass war er. Wie viele der Gäste trug er noch immer seine violette Maske, die mit den goldenen Verzierungen an eine venezianische Maske erinnerte und lediglich seine Augen umrahmte. Die lockigen, rotbraunen Haare umrahmten Stirn und Wangen. Seine dunklen Augen schimmerten im Kerzenlicht und Leo stellte verwirrt fest, dass sie unnatürlich rot wirkten. So wie sie ihn ansahen, war es ihm, als zögen sie ihn unwiederbringlich in ihren Bann. In ihnen lag etwas, was ihn das Treiben um sie herum vergessen ließ und nichts anderes zuließ als seinen Blick. Leos Atem beschleunigte sich und ihm wurde ein wenig schwindelig. Der Fremde lächelte vielsagend und dieses Mal spürte Leo, wie sich seine eigenen Wangen röteten. Vielleicht war er heute nicht der Eroberer, sondern die Eroberung. Der Gedanke gefiel ihm weit mehr, als er zugeben wollte.
»Kennen wir uns?«, fragte Leo atemlos, woraufhin der Fremde nur den Kopf zur Seite neigte, ähnlich wie Leo es zuvor bei François getan hatte. Als der Mann zu sprechen begann, spürte Leo seinen Atem auf seinem Hals und ein wohliger Schauer fuhr ihm über den Rücken.
»Vielleicht? Jedenfalls noch nicht gut genug.« Die samtene Stimme des Mannes war kaum mehr als ein Flüstern und Leo bemerkte, wie er die Luft anhielt. »Ich hoffe aber sehr, das wird sich bald ändern, kleiner Prinz.«
Damit lehnte er sich wieder zurück und die Musik deutete einen erneuten Wechsel an. In Trance beobachtete Leo, wie sich der Mann entfernte, und plötzlich hielt er eine unbekannte Dame in den Armen. Er brauchte all seine Willenskraft, um sich wieder auf die Schritte zu konzentrieren und ihr nicht auf die Füße zu treten. So schnell, wie es die Etikette erlaubte, verließ er daraufhin die Tanzfläche und schaute sich um. Der Mann war nirgends zu sehen. Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr hatte er das Gefühl, er käme ihm bekannt vor. Hatte er ihn auf anderen Feiern gesehen? Waren sie einander schon einmal begegnet?
Mit zittrigen Fingern suchte er sich ein neues Glas Champagner und leerte es in einem Zug. Sein Herz beruhigte sich langsam, das seltsame Gefühl blieb aber. So schnell ließ er sich sonst nicht aus dem Konzept bringen.
»Leo? Ist alles gut bei dir?« François‘ Stimme klang weit entfernt und Leo atmete tief durch, bis er sich zu seinem Freund drehte und nickte.
»Oui, nur etwas zu viel Wein. Der verträgt sich nicht mit den schnellen Drehungen.«
François wirkte nicht ganz überzeugt und bedachte ihn mit einem sorgenvollen Blick.
So sehr Leo den unbeschwerten Abend genoss – der Fremde wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Ebenso wie die dunkle Vorhersehung, die er so verzweifelt versuchte zu vergessen. Die Kerzen in den Leuchtern erinnerten ihn an das Feuer aus seinem Traum, die Spielkarten auf den Tischen fielen wie die kleinen Punkte auf der Karte mit dem Turm und die überlaufenden Gläser Champagner riefen die Kelche in sein Bewusstsein. Gewöhnlich hätte er sich keine Gedanken über solchen Aberglauben gemacht, aber warum wollte das komische Gefühl dann nicht weichen?
Kurz nach Mitternacht verließ er mit François den Saal, um ein wenig frische Luft zu schnappen.
»Ich sollte mich auf den Weg machen. Der Abend war lang genug.« Er gähnte und streckte sich.
»Das klingt aber gar nicht nach dir.« François legte die Hände auf Leos Schultern und schaute ihn fragend an.
»Ich bin nur müde, nichts weiter.« Leo zwang sich zu einem Lächeln. »Das ganze Durcheinander zu Hause macht mich wahnsinnig. Thomas‘ Verlobung, Maries Verehrer, die anstrengenden Gäste meiner Eltern. Ich brauche nur ein bisschen Ruhe.«
François nickte erleichtert und ging voran zu den Pferden.
»Soll ich dann lieber nach Hause reiten? Wie ich dich kenne, lenkt meine Anwesenheit dich vom Schlafen ab.« Er lächelte gespielt unschuldig und Leo gab ihm daraufhin einen sanften Klaps.
»Untersteh dich! Deine Anwesenheit ist genau die Ablenkung, die ich brauche.«
***
Der Ritt nach Hause, zum Château seiner Familie, erinnerte Leo an die vorherige Nacht. Es war beinahe unwirklich, fast als wäre keine Zeit vergangen und als hätten sie gerade erst das Zelt der Wahrsagerin verlassen.
Nach einer Weile bogen sie in die Allee ein. Auch dieses Mal schien das Licht in den Fenstern heller als sonst. Leo wusste nicht, warum sein Herz erneut begann, wie wild zu schlagen, aber auch das unheilvolle Gefühl war stärker als zuvor. Wieder spornte er seinen Hengst an, um zu sehen, was den Eindruck erweckte.
Doch was sie sahen, war kein Kerzenlicht. Es war Feuer. Loderndes, alles verschlingendes Feuer.
Leos Augen weiteten sich in Panik und er spürte, wie sein Herz so fest klopfte, als wollte es aus seinem Brustkorb springen.
Dann ritt er schneller, als er jemals zuvor geritten war.
Alles um ihn herum verschwamm, er hörte François in der Ferne rufen, aber vielleicht hatte er sich das nur eingebildet.
Das Gebäude stand in Flammen.
Die Türen waren geschlossen, scheinbar verriegelt, und eine Rauchsäule wandte sich gen Himmel.
Vor dem Schloss hatte sich eine Menschentraube gebildet. Einige gossen aufgeregt Wasser aus Eimern in ein zerbrochenes Fenster. Es war völlig aussichtslos.
Andere wirkten ganz und gar nicht besorgt. Im Gegenteil, sie feierten überschwänglich.
Leo preschte mit seinem Pferd durch die Menge und konnte sich geradeso noch halten, als es sich aufbäumte, um den Flammen nicht zu nah zu kommen. Er schwang sich vom Sattel und der Hengst flüchtete in Richtung Garten.
Der Rauch biss in Leos Augen und Lungen. Die Hitze schmerzte auf seiner Haut. Es hatte keinen Sinn hineinzugehen, selbst wenn vor der Tür keine Bretter aufgestellt gewesen wären.
Plötzlich drang eine bekannte Stimme an ihn heran. Es war die einer älteren Frau. Desorientiert schaute er, wo sie herkam.
»Seigneur!« Eine rundliche Frau mit einer weißen Schürze lief auf ihn zu und umklammerte seinen Arm, als sie ihn erreichte. Es war die Köchin seiner Familie.
Er konnte ihr nicht antworten oder sie fragen, was mit seinen Eltern und Geschwistern war. Zu viele Gefühle führten Krieg in seinem Herzen.
»Ich bin so froh, dass Ihr unversehrt seid! Es ist schrecklich … sie sind da drin …« Ihre Stimme überschlug sich und sie schaute hilfesuchend zu ihm herauf.
»Wer ist da drin?«, fragte er nur tonlos. Seine Stimme hörte sich fremd an.
»Monsieur le Comte, die Comtesse, alle! Ich und die anderen Bediensteten aus der Küche waren die Einzigen, die es herausgeschafft haben. Sie haben uns gehen lassen.«
Leo schaute herauf in die Flammen. Es hätte an Selbstmord gegrenzt hineinzugehen, abgesehen davon, dass er weder durch die Türen noch durch die Fenster ins Innere gelangen konnte.
Er überlegte fieberhaft, ob es eine Möglichkeit gab, aber ihm wollte nichts einfallen.
Einige Dachziegel lösten sich und fielen auf sie herunter. Er konnte die Köchin geradeso noch zur Seite ziehen. Die Hitze und der Rauch machten es schwer zu denken.
Ein Gedanke kam ihm dennoch. Und dieser drohte alle anderen zu verschlucken.
»Sie?«, fragte er die Köchin mit bebender Stimme. »Wer sie?«
»Die Männer dort! Revolutionäre, sagen sie. Sie haben sogar gesagt, dass sie uns leben lassen, weil wir ja nur Diener sind … dabei sind die Anderen auch noch dort drin!«
Leo drehte sich langsam zu der Gruppe von Männern um, die ihm zuvor schon aufgefallen war. Seine Hand glitt von der Schulter der Köchin und für einen Moment sah er nichts anderes als das halbe Dutzend Gestalten, die nicht weit entfernt standen und gerade eine Flasche Wein herum reichten. Zu ihren Füßen lagen ein paar Säcke, aus denen goldene Kerzenleuchter und andere Schätze hervorblitzten. Leo spürte kaum, wie François, der ihn endlich eingeholt hatte, nach seinem Arm griff. Auch seine Stimme hörte er so entfernt, dass er die Worte nicht verstehen konnte.
Leo fühlte eine seltsame Ruhe. Er hörte ein Rauschen, das die Geräusche der Flammen und die Stimmen übertönte. Es war das Blut in seinen Ohren. Eine Welle rollte auf ihn zu und er bemerkte, wie sich seine Füße wie von allein in Bewegung setzten.
Kurz bevor er die Männer erreichte, brach sie über ihm zusammen. Eine Welle aus reiner heißer Wut, wie er sie noch nie zuvor gespürt hatte.
Dass er hoffnungslos unterlegen war, auf die Idee kam er erst gar nicht. Es wäre ihm auch egal gewesen. Seine Vernunft hatte geradeso noch ausgereicht, um nicht in das brennende Gebäude zu stürmen. Sie genügte aber nicht, um ihn davon abzuhalten, sich auf die Männer zu stürzen.
»Wart ihr es?! Habt ihr sie getötet?!«, schrie er so laut, dass sein Hals brannte.
Die Männer lachten und begutachteten ihn belustigt.
»Sieh mal, Henri, ist das nicht der kleine Lord von gestern?«, sagte einer von ihnen.
»Keine Ahnung, die Puderfressen sehen alle gleich aus für mich«, antwortete der Andere namens Henri.
Leo starrte die Männer für einen Moment an. Es waren tatsächlich die, denen er einen Tag zuvor Almosen gegeben hatte. Ungläubig musterte er sie. Wie konnten diese Männer, denen er vielleicht sogar das Leben gerettet hatte, sein eigenes zerstören?
Das Adrenalin in seinen Adern gab ihm keine Möglichkeit, noch weiter darüber nachzudenken.
Er stürzte sich auf Henri, riss ihn mit sich zu Boden und schlug auf ihn ein.
Seine Faust traf das Gesicht des Mannes. Immer und immer wieder, bis ihm Blut aus Mund und Nase lief. Die Knöchel taten ihm weh, aber Leo spürte nichts als die Wut. Er war außer Atem, seine Hände wanderten zu Henris Kehle und er drückt so fest zu, wie er konnte. Gnadenlos, ebenso wie sie seine Familie ausgelöscht hatten. Henris Hände klatschten gegen seine Arme, bekamen ihn aber nicht zu fassen. Leo merkte, wie etwas unter seinen Fingern nachgab und wie der Mann zuckte und röchelte.
Ein scharfer Schmerz fuhr durch seine Seite und das Nächste, das er sah, war der Kies, auf dem er mit dem Kopf landete. Weit entfernt hörte er François panisch seinen Namen rufen.
Die anderen Männer waren aus ihrer Starre erwacht und hatten ihn von Henri heruntergeholt.
Leo versuchte sich aufzurichten, ein heftiger Tritt in seinen Bauch ließ ihn aber wieder einknicken. Er stöhnte schmerzerfüllt. Die Männer gönnten ihm aber keine Pause. Auf einen Tritt folgte der nächste. Sein Körper bestand aus nichts als Schmerz. Sein Bauch, seine Brust, seine Beine, schließlich auch sein Kopf. Er konnte nicht einmal sagen, wie viele ihn angriffen. Das Einzige, was er wahrnahm, waren der Schmerz und die Schreie der Köchin und von François. Sein Freund versuchte, die Männer von ihm abzubringen, als ihn aber ein gezielter Schlag auf den Kopf traf, ging er ohnmächtig zu Boden. Leo war beinahe neidisch, obwohl er hoffte, dass es ihn nicht schlimm erwischt hatte. Er wollte nur noch, dass es vorbei war. Dass er seine Familie wiedersehen konnte und dass der Schmerz ein Ende fand.
Aber die Männer wussten genau, was sie taten. Sie würden ihn so schnell nicht sterben lassen.
Neben den Tritten bewarfen sie ihn mit Schimpfwörtern, kippten den restlichen Wein über ihn und schienen ihrerseits den verletzten Henri völlig vergessen zu haben.
Leo verstand nur noch, dass sie ihre Arbeit gründlich machen wollten, aber bevor sie den letzten la Fayette ins Jenseits beförderten, wollten sie noch etwas Spaß haben. Unter Spaß verstanden sie offensichtlich, ihn so lange mit Tritten und Schlägen zu peinigen, bis er seiner Familie hinterherreiste.
Leo schmeckte Blut und ihm wurde langsam kalt. Die Schmerzen wurden dumpf und die Welt vor seinen Augen verzerrte sich und wurde kurz schwarz, nur um dann wieder im Feuerschein aufzuflackern. Bewegen konnte er sich nicht mehr. Er wusste nicht, wo er verletzt war, er war aber sicher, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis es endlich vorbei war.
Zu seiner Überraschung ließen die Männer von ihm ab.
»Der Junge ist kaputt, der macht es nicht mehr lange«, meinte einer von ihnen.
»Ja, es ist langweilig, wenn er nicht mehr reagiert«, sagte ein Anderer.
Ein Dritter beugte sich zu ihm herab und klatschte ihm auf die Wange.
»Schau mal, siehst du das Feuer? So wird es allen dreckigen Blaublütern ergehen.« Er gab ihm eine Ohrfeige, die Leo aber kaum spürte. Die hasserfüllten Augen des Mannes brannten heißer als das Feuer in seinem Rücken. »Viel Spaß beim Sterben.«
Damit richtete er sich auf und folgte den Anderen, die sich mit Henri im Schlepptau entfernten.
Leo rang nach Luft und schaute nur benommen zu den Flammen herauf. Ein Teil der Fassade bröckelte und stürzte neben ihm auf den Kies.
Ein Schatten erschien über ihm. War es François? Nein, irgendetwas war anders.
»Sei beruhigt, kleiner Prinz. Dies ist noch nicht das Ende.«
Die Stimme war sanft und gehörte einem Mann, viel mehr konnte Leo aber nicht verstehen.
Er blinzelte nur, spürte, wie er hochgehoben wurde und ein heftiger Schmerz durch seinen Körper fuhr. Danach wurde es dunkel.
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