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Lavandula angustifolia (Lavendel)
Bei Unruhe und Gedankenkreisen
Mhairi
Angst.
Eine physiologische Reaktion des Körpers. Der Herzschlag beschleunigt sich, die Schweißsekretion nimmt zu. Die Pupillen erweitern sich, die Muskulatur geht in Habachtstellung für den Kampf oder die Flucht. Manch einer empfindet sie in der Bauchregion, begleitet von Übelkeit. Andere durch Kurzatmigkeit oder ein Schwindelgefühl.
Mhairi Gilmour kannte Angst.
Sie empfand sie, wenn ihre Mutter einen Schub ihrer Multiplen Sklerose hatte und niemand vorhersagen konnte, welche neurologischen Ausfälle sich zurückbilden und welche bleiben würden. Mhairi hatte Angst, wenn sie nach Hause kam und ihr Vater aus der Ferne nach Aceton roch – sein Blutzucker also so hoch war, dass nicht mal mehr das Messgerät einen Wert anzeigte. Sie hatte Angst, dass sie eines Tages ihr Haus verlassen mussten, weil sie es sich nicht mehr leisten konnten.
Mhairi war mit dem Gefühl der Angst lange vertraut. Die physiologischen Reaktionen überkamen auch sie. Die Übelkeit, der Schweiß, der Schwindel.
Doch Angst war für sie noch etwas anderes.
Für Mhairi war sie violett.
Ein dunkles Violett, fast schwarz, das sich vor ihrem inneren Auge in einer unendlichen Breite öffnete und alles zu verschlingen drohte.
Synästhesie nannte sich das Ganze.
Eine Sinneswahrnehmung, in ihrem Fall ihre Emotion, war mit einer anderen Wahrnehmung verknüpft: mit Farben. Sie hatte das nicht gelernt oder erworben. Es war immer so gewesen. Genauso wie sie Töne auf ihrer Haut fühlte. Was dazu führte, dass die Kleine Nachtmusik von Mozart nicht nur ein Höhepunkt in akustischer Hinsicht, sondern eine taktile Sensation war.
Diese Eindrücke konnte sie nicht abschalten. Genauso wenig wie sie ihre Augen am Sehen, ihre Ohren am Hören und ihre Zunge am Schmecken hindern konnte.
Sie war nicht in der Lage, die synästhetischen Farben zu malen oder sie in ihrer Detailtreue und Fülle zu beschreiben. Es gab Farbtöne, die sie gar nicht wahrnahm. In ihren gesamten dreiundzwanzig Lebensjahren hatte sie bisher keine Emotion gefühlt, die komplett schwarz war. Umgekehrt wurde sie nicht automatisch froh, wenn sie Flachsgelb sah.
Das Paradoxe war, dass sie positive Gefühle mit Farben verknüpfte, die sie nicht leiden konnte und andersherum.
So schätzte sie es überhaupt nicht, Langeweile zu haben. Wer tat das schon? Der Bronzeton, den sie dabei empfand, war jedoch so schillernd, dass sie darin eintauchte. Sobald sie das tat, war die Langeweile verschwunden. Die hübsche Bronze stets nur ein kurzer Begleiter ihres Tages. Diese Fähigkeit hatte ihr manche stundenlange Zugfahrt erträglicher gestaltet.
Ihre Streitlust malte ein gleißendes Smaragdgrün. War sie deshalb so kratzbürstig und scheute keine Konfrontation, weil sie dieses schrille, funkelnde Grün liebte? Ihr Optimismus dagegen trat in einem matschigen Heidelbeerblau auf. Es war keine Eigenschaft, die sie auszeichnete. Ein schmutziges Blau kennzeichnete ihre Überraschung. Mhairi hasste Unvorhergesehenes, ob es eine Reifenpanne an ihrem Fahrrad oder eine ungeplante Geburtstagsparty war.
Die Farben erstreckten sich wie eine Weite, eine Ebene in ihr. Sie begab sich mit der Emotion hinein, ging darin auf und ließ sich umringen, bis die Erkenntnis über ihr Ich ihr in den Farbtönen bewusst wurde. Das Ich war in ihrer Persönlichkeit. Mhairi stand sich durch diese Klarheit ihrer Emotionen sehr nah. Mit den Kolorierungen hatte sie ein ständiges Abbild ihrer Stimmungen neben sich, in sich. Was ihr erlaubte, die Gefühle bewusster wahrzunehmen und darauf Einfluss zu haben. Ein Barometer oder Kompass, der durch ihren Tag mitschwang. Es hatte sie Achtsamkeit gelehrt, was ihre Befindlichkeiten und deren Einwirkung auf sie sowie deren Beeinflussung auf ihren gesamten Alltag anging.
Schon als Kind war es ihr leichtgefallen, ihre Gefühle einzuordnen. Vielleicht war sie deshalb bei all ihrem Temperament so ausgeglichen, auch wenn es ihr schlecht ging. Weil sie in ihrem eigenen Wesen geborgen war. Sogar wenn sie Wut empfand und sich in ihrer aufbrausenden Art in etwas hineinsteigerte. Für sie war es ein impulsives Farbenspiel in ihrem Kopf, das sich in diesem Moment genau richtig anfühlte. Deshalb lebte sie es aus.
Im Kontakt mit anderen war es hingegen schwierig.
Es war nicht einfach gewesen zu erkennen, dass Umstehende sich nicht grün fühlten. Oder ein Prickeln auf der Haut wahrnahmen, wenn sie Pavarotti hörten.
Es stellte Mhairis innere Normalität dar. Für sie hatte es bedeutet, anders zu sein.
Selbst vertraute Menschen verstanden ihre Eigenart nicht. Daher hatte sie sich angewöhnt, es nicht zu erwähnen. Wahrnehmung stellte etwas Persönliches dar – individuell und zensierbar.
Einzig mit ihrer Mutter sprach sie darüber. Derjenigen Person, die ihre Synästhesie mitentdeckt und ergründet hatte. Vielleicht waren sie deshalb so innig verbunden.
»Was ist los?«
»Ich bin grün.«
»Hm, kannst du mir das näher beschreiben?«
Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Grün eben!«
»Also … sauer?«
Auf diese Weise hatte ihre Mutter begonnen, ihre Gefühle zu übersetzen. Ihre Mum, von Beruf Lehrerin, hatte ihr, als sie älter war, erklärt, dass Kinder Sprache in Bildern verarbeiten und erleben. Daher war zum Beispiel das Wort nicht für Kinder schwierig. Wie sah nicht aus?
Ihre Mutter hatte ihr das anhand eines Satzes erläutert: Der Affe isst die Banane nicht. Sie hatte Mhairi gefragt, was sie vor ihrem inneren Auge sah.
Klar: Einen Affen, der eine Banane aß.
Damit hatte ihre Mutter verdeutlicht, dass Anordnungen wie: Greife nicht auf den Herd oder lass die Glasflasche nicht fallen, für Kinder schwer umzusetzen waren. Sie resultierten darin, dass sie genau das Gegenteil taten: die Glasflasche fallen lassen, den Herd berühren. Denn für das nicht gab es kein bildhaftes Äquivalent in ihrem Kopf. Das nicht war unverständlich.
Für Gefühle gab es keine Entsprechung, außer der Art, wie sich Emotionen im Gesicht des Gegenübers spiegelten. Das stellte einen harten Lern- und Erfahrungsprozess für Kinder dar. Denn wie sah jemand aus, der Wut oder Trauer empfand?
Durch ihre Farben hatte Mhairi etwas vor Augen.
Gelassenheit war kornfarben.
Mitleid war bordeaux.
Bewunderung war wie das Innere einer Wassermelone.
Sie hatte das große Glück, dass ihre Mutter durch ihr Pädagogikstudium von Synästhesie gehört hatte. Für Mhairi war es befreiend gewesen, es ihrer Mum gegenüber ansprechen zu können. Diese hatte dadurch den Farben, den Gefühlen einen Namen gegeben. Sie hatte sich von dieser Frau akzeptiert gefühlt, so wie sie war. Dass das bei anderen nicht so sein würde, war eine schwere Lektion in ihrem Leben gewesen.
Das Urvertrauen in ihre Mutter blieb ungebrochen. Es gab diesen einen Menschen und daneben ihren Vater und ihren Bruder, für den sie in Ordnung war. Weil sie in engem Kontakt mit sich selbst stand, war sie auch für sich in Ordnung.
Ihre Andersartigkeit im Umgang mit anderen blieb ihr bewusst. Bei den wenigen Malen, die sie davon gesprochen hatte, war sie belächelt worden. Man hatte ihr Unglaube oder Spott entgegengebracht. Daher hatte sie entschieden, dass die Synästhesie ihr Geheimnis blieb.
Es war schwierig, einen Teil von sich, den man so genoss, zu verstecken und im Geheimen zu zelebrieren. Was sie ebenso mit ihrer Musik tat, immerhin war sie eine passionierte Fidelspielerin.
Wenngleich sie mit ihrer Mutter über ihre Sensationen sprach, sie konnte es ihr nie begreiflich machen, wie es sich anfühlte. Als versuchte sie, in einer grauen Welt Farben zu beschreiben. Was eine merkwürdige Einsamkeit mit sich brachte, obwohl sie wusste, dass es andere Synästhetiker auf der Welt gab. Ihre Mutter hatte einen Versuch gestartet, Kontakte zu knüpfen. Dann war ihre Krankheit ausgebrochen, und ihr Leben hatte sich schlagartig verändert. Anderes war in den Hintergrund getreten, und sie hatten die Netzwerke nicht verfolgt.
Einmal hatte Mhairi ein Experiment durchgeführt, um zu versuchen, ihre inneren Farben zu verändern. Ihr Ziel war es gewesen, Ekel anders aussehen zu lassen als orange.
Maden hatte sie nie gemocht. Also war sie zu Walter Green gegangen, der die Viecher zum Angeln verwahrte, und hatte ein Glas voll mit nach Hause genommen. Mit aller Willenskraft hatte sie sich darauf konzentriert, dass es in ihrem Inneren nicht orange aufglomm. Ein unangenehmes Herzklopfen und bohrende Übelkeit resultierten. Außerdem war ihr der Schweiß ausgebrochen. Ein panikartiger Zustand hatte von ihr Besitz ergriffen. Das Orange war zu einem wehrhaften, fiesen Farbton geworden, der lila Sprenkel bekommen hatte. Er war zu einer unangenehmen Empfindung mutiert, die sie nicht mehr hatte beseitigen können. In ihrem Unterbewusstsein schien sich ein Kampf abgespielt zu haben. Jedes Mal, wenn sie sich nun ekelte, flackerte dieser Widerstreit auf. Daher hatte sie das Experiment nicht wiederholt.
Ihre Emotionen bedeuteten Hingabe.
Selbst beim Ekel gelang es ihr, sich von der Farbe umfließen zu lassen, in das Gefühl einzutauchen.
Einzig die Angst vermochte sie zu übermannen.
Mhairi hatte schon gelesen, dass es Synästhetiker gab, die angstfrei waren. Sie wünschte, diese Begabung hätte sie auch. Von allen Emotionen, die sie auf ihre Weise wahrnahm, blieb die Angst die Einzige, die bedrohlich für sie war.
Selbst mit Trauer konnte sie umgehen, da diese ein tröstliches, warmes Weinrot zeichnete. Wie ein lindernder Tränenfilm legte es sich angenehm über ihre Augen und erfüllte zeitgleich ihr Innerstes, als würde es ihr Herz in Watte betten.
Doch das dunkle Violett schwebte nun vor ihr. In dem Moment, in dem Catherine, ihre Chefin in der Dorfapotheke, ihr eröffnete, dass sie in Rente gehen würde.
Und es keinen Nachfolger gäbe.
Mhairi war nicht oft um Worte verlegen. Just saß sie stumm wie ein Fisch und völlig perplex vor ihrer langjährigen Kollegin, die ihr alles über Pharmazie beigebracht hatte, was sie wusste. Das kurze graue Haar stand in jedwede Himmelsrichtungen ab. An einer goldenen Kette hing ihre Lesebrille, deren Bügel sie in den Mund nahm, wann immer sie nachdachte. »Nun schau mich nicht so an, Mhairi. Ich bin fünfundsiebzig Jahre alt. Hast du gedacht, das könnte mit mir ewig so weiter gehen?«
Wie töricht sie gewesen war, genau davon auszugehen.
Ihr Blick wanderte über die Lachfältchen in Catherines Augenwinkeln, die grauen Haare und die Altersflecken auf ihren Handrücken. Als hätte sie jahrzehntelang alle Anzeichen des Alterns an dieser Frau übersehen und würde nun mit der Nase darauf gestoßen. Sie kannte Catherine als Arbeitsbiene. Alles andere passte nicht zu ihr.
»Und nun?«, fragte Mhairi, sowie sie ihre Stimme wiedergefunden hatte.
»Ich werde versuchen, zu verkaufen. Aber ich weiß nicht, ob ich Erfolg haben werde. Wer will schon hier leben?«
Ja, wer wollte schon in Clachan Dubh leben? Einem zweihundertzwanzig Seelendorf in Argyll and Bute, nahe des Westufers des Loch Lomond, etwa zwanzig Meilen hinter Glasgow gelegen. Ihrer Heimat, der sie mit Herz und Seele verschrieben war, als eine der wenigen jungen Menschen, die in diesem Ort lebten.
Die Bevölkerung war alt, die Jüngeren zog es in die Großstädte. Der Ort starb langsam aus. Touristisch hatten sie, bis auf hübsch gepflegte Gärten, nicht viel zu bieten. Von dem Rummel rund um die Highland Games bekamen sie nie viel mit.
»Die Geschäfte laufen gerade so passabel, das weißt du. Aber es wäre meine Altersversorgung. Ich will den Laden nicht für einen Apfel und ein Ei verscherbeln«, fuhr Catherine fort und schlüpfte aus ihrem Kittel.
Ihr Mund wurde staubtrocken, Herzrasen setzte ein. Mhairis Muskeln spannten sich an, als müssten sie sich bereit machen.
Genau wie das Violett.
Wie immer, wenn sie sich fürchtete. Jetzt war es nicht nur fast schwarz, sondern scharf und tödlich wie eine gewetzte Klinge. Denn je nachdem, um welche Angst es sich handelte, kam eine feine Nuance hinzu. Nun war es etwas Existenzielles.
Tausend Gedanken rasten durch ihren Kopf wie lilafarbene Fledermäuse.
Die Apotheke war ihr Job.
Als ausgebildete Pharmazeutisch-technische Assistentin könnte sie überall arbeiten. Aber dafür müsste sie fahren, mitunter kilometerweit. Erst vor kurzem hatte sie ihren Führerschein gemacht, nachdem ihr Dad beschlossen hatte, sich nicht mehr ans Steuer zu setzen. Das war in Anbetracht seines durch die Zuckerkrankheit schwindenden Augenlichts vernünftig. Eine Ersatzlösung hatte hergemusst. Nie hatte sie eine Fahrerlaubnis und ein eigenes Auto vermisst. Ihr Dad hatte sie zu Einkäufen, dem Bahnhof oder auswärtigen Terminen gefahren. Eine Zeit lang hatte sie sich von Paul Walker aus dem Nachbarhaus kutschieren lassen. Sein zudringlicher Blick auf ihre Oberweite hatte eine Alternative bedingt. Also hatte sie ihre Aversion gegen Autos unterdrückt und Fahrstunden genommen. Es war nicht zu ihrer Lieblingsbeschäftigung geworden. Während der Lehrstunden hatte das Violett sie aus dem Seitenspiegel angeleuchtet.
Allein aufgrund des Gesundheitszustandes ihrer Eltern, vor allem ihrer Mutter, musste jemand mit einem Führerschein und funktionierendem Augenlicht im Haus sein.
Nun gut, sie hatte bestanden, dann würde sie es auch schaffen, jeden Tag zu einer Arbeitsstätte zu fahren, die außerhalb der Reichweite für einen Fußmarsch lag.
Mhairi war ein Naturmensch.
Sie ritt gerne, fuhr Fahrrad oder ging zu Fuß.
Das weitaus größere Problem würde sein, dass sie für ihre Eltern nicht unmittelbar zur Verfügung stand. In ihrer Mittagspause hatte sie nach Hause gehen können, eine warme Mahlzeit zubereitet oder in Empfang genommen, nach dem Rechten gesehen und war bei Notfällen direkt vor Ort. Das wäre unmöglich, wenn sie in einer anderen Stadt arbeitete.
»Ich wünschte mir, du hättest Pharmazie studiert. Mit Freuden hätte ich meinen Laden in deine fachkundigen Hände übergeben. Das weißt du, oder? Ich habe dir alles beigebracht, was ich weiß. In meinen Augen bist du eine vollwertige Arbeitskraft. Aber ich kann eben nur an einen examinierten Apotheker verkaufen.« Das Bedauern stand in Catherines Augen und vertiefte die Fältchen darum. Es war das erste Mal, dass Mhairi es bereute, nicht studiert zu haben. »Ist schon okay, Catherine. Ich werde klarkommen. Vielleicht ergibt sich etwas Unerwartetes«, erwiderte sie hoffnungsvoller, als sie sich fühlte.
Hoffnung. Ein frommer Wunsch.
Ihre Chefin verabschiedete sich und ließ sie allein im Pausenraum zurück. Die Dämmerung war hereingebrochen und legte den Raum in Schatten. Sie bewegten sich auf Mhairi zu und wetteiferten mit dem Violett in ihrem Kopf um die Vormachtstellung. Kirschrote Verzweiflung pfropfte sich in unangenehmen Zacken und Wellen obenauf und versuchte, sie zu übermannen. Mhairi hielt sie im Zaum.
Es ist weder die Zeit noch der Ort, um den Kopf in den Sand zu stecken. Sie raffte sich hoch, ehe sie in völliger Dunkelheit an ihren Grübeleien erstickte.
Belastet durch Catherines Eröffnung, zog sie schwermütig ihren Arbeitskittel aus, als wäre das der erste Abschied, den sie durchstehen musste. Gedankenversunken schloss sie die Apotheke ab und marschierte durch einen leichten Nieselregen nach Hause, ohne den Straßen ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Sie war in Clachan Dubh geboren. Den Weg fand sie mit verbundenen Augen. Sogar mit einem Stachel im Herzen, der seit Catherines Eröffnung darin steckte und ihren Pulsschlag lähmte.
Das alte zweistöckige Gebäude ihres Zuhauses sah friedlich aus, wie es am Ende der Straße auf sie wartete. Aus dem Wohnzimmerfenster drang Licht. Ein einsamer heller Klecks in der Nachtschwärze, die das restliche Haus umgab, wie die trüben Gedanken ihre Zuversicht.
Ihr Heim hatte sich über all die Jahre kaum verändert. Da waren dasselbe Tor und die gleichen Forsythien, die den kurzen Weg zur Haustür säumten. Dieselben klapprigen Läden aus Holz, die rechts und links die Fenster einrahmten. Durch die Witterung hatten sie tiefe Risse bekommen wie Schrunden in beanspruchten Händen. Ihr Dad sollte Farbe und Versiegelung erneuern lassen, damit sie eine Weile hielten.
Mhairis Herzensort – ihr großer Kräutergarten an der Kehrseite des Hauses – war von vorne nicht zu sehen.
Sie schloss die Tür hinter sich und lugte um die Ecke.
Mum und Dad saßen vor dem Fernseher und schauten eine Gameshow. Ihre Mutter Edith auf ihrem Lieblingssessel, den Rollstuhl in Griffnähe, der ihr all jene Freiheiten schenkte, die ihre Beine ihr verwehrten. Sie sah älter aus als ihre achtundfünfzig Jahre. Die Krankheit hatte sie voraltern lassen. Der braune Naturton ihrer Haarfarbe wich einem dunklen Grau, das teils von weißen Fäden durchzogen war. Ihre Gestalt wirkte ausgemergelt.
Sie war jedoch nicht gebrochen.
Mhairi war elf Jahre alt gewesen, als ihre Mutter den ersten MS-Schub erlitten hatte. Ihr Bruder Sean hatte gerade seinen Abschluss gemacht. Er war an der Londoner Universität für das Pharmaziestudium zugelassen worden, als die Diagnose über der Familie hereingebrochen war.
Es war ein leichter Schub gewesen, und sie hatte sich zügig erholt. Ihre Mum hatte ihrem Beruf als Lehrerin fortan nur mehr in Teilzeit nachgehen können. Die finanziellen Einbußen, die damit einhergegangen waren, waren nicht unerheblich. Zumal ihre medizinische Behandlung, ebenso wie Seans Studium kostspielig gewesen waren.
Da es für ihre Eltern undenkbar war, das Haus ihrer Familie, in dem schon die erste Generation der Gilmours gelebt hatte, zu verkaufen, war an anderer Stelle gespart worden. Ihr Vater, der Maurer war, hatte nebenher gejobbt.
Sean hatte sein Examen gefeiert, als der schlimmste Schub gekommen war. Es war für Mhairi furchtbar gewesen, ihre Mutter am Boden zu sehen, derweil sie zeitweise auf Windeln angewiesen gewesen war. Lange Zeit hatte sie sich nicht selbst in und aus dem Rollstuhl mobilisieren können. Ihren Job hatte Edith aufgeben müssen. Dies bildete den Startschuss für Mhairis Existenzängste.
In ihrem letzten Schuljahr stand mehr als einmal ein Zwangsvollstrecker vor der Tür. Allein durch eine anonyme Spende konnten sie ihr Haus halten. Einen higher grade Schulabschluss hatte sie nicht anstreben können, da es dringend erforderlich gewesen war, dass sie ein Einkommen zum Familienhaushalt beisteuerte. Aus diesem Grund hatte sie in Edinburgh eine Ausbildung zur PTA absolviert und eine Anstellung in Catherines Apotheke angenommen.
Ihr Vater hatte das Haus selbstständig barrierefrei umgebaut. Das war, aufgrund des verschachtelten Grundrisses, nicht einfach gewesen. Trotz seines handwerklichen Geschickes waren ihre Ersparnisse wie von einem gefräßigen Krokodil verschlungen worden, das medizinische Hilfsmittel als Leibspeise bevorzugte. Unter anderem hatten ein elektrischer Treppenlift und die Sonderausstattung des Badezimmers an ihrem Notgroschen gekratzt.
Ihr Dad war bald körperlich nicht mehr in der Lage, über das Rentenalter hinaus zu arbeiten. Ihre finanzielle Situation war und blieb angespannt. Ihrer Mutter merkte man dies an. Das Gemüt ihres Vaters beeindruckte hingegen nichts so schnell. Da waren er und ihr Bruder sich ähnlich. Immer war alles unkompliziert und unproblematisch.
Nur, dass es das nie war.
Jetzt war es ihre Mutter, die zuerst bemerkte, dass mit Mhairi etwas nicht stimmte sowie sie sich zu ihren Eltern in das Wohnzimmer gesellte und ins Leere starrte.
»Ist alles in Ordnung?« Die sorgenvolle Falte auf ihrer Stirn erschien zuverlässig, so viel Routine hatte ihre Mum mit diesem Gesichtsausdruck.
Schweren Herzens erzählte sie ihren Eltern von der aktuellen Entwicklung um die Apotheke. Sie versuchte, ihre Sorgen aus den Worten herauszuhalten und bei den Fakten zu bleiben.
»Dann wirst du eben in einer anderen Apotheke arbeiten.« Ihr Vater wechselte den Sender und konzentrierte sich auf ein Fußballspiel, während er sich eine Tüte Weingummi einverleibte. Wie immer machte es sie schrecklich zornig, wenn er das tat. Ihr Vater war ein wandelnder kardialer Risikofaktor. Er hatte Bluthochdruck, war übergewichtig und zuckerkrank und konnte es sich nicht verkneifen, gelegentlich Pfeife zu rauchen. Es war ein Wunder, dass seine Herzkranzgefäße bisher nicht ihren Dienst versagt hatten. Mit der Einstellung seines Blutzuckers nahm er es nicht genau. Ein Grund mehr, warum sie ernsthafte Bedenken hatte, in einer anderen Stadt zu arbeiten. Wer würde seinen Spritzplan im Auge behalten, wenn sie es nicht tat?
»Wie ist denn dein Zucker heute Abend gewesen?«, fragte sie, nur um ihn zu provozieren. Er tat so, als hätte er es nicht gehört. Es ärgerte sie, dass ihr Dad sie zwar für kompetent genug hielt, seine Medikamente zu überwachen, aber ihre Sorge um seine Gesundheit und ihre Empfehlungen nie ernst nahm. Es brodelte in ihr, derweil er die Einschnitte, die Catherines Rente für sie alle bedeuten konnte, abtat, als sei es eine Kleinigkeit.
Obwohl sie erst angekommen war, zog es sie nach draußen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Vielleicht klang die Wut über die mangelnde Weitsicht ihres Vaters ab. Diese schlängelte sich durch ihr Sichtfeld und pochte zeitweise an den Rändern wie eine tickende Zeitbombe, die jeden Moment zünden würde. Ein bisschen frische Luft würde sie im Zaum halten. Die Natur war Mhairis Freund und schenkte ihr Freiheit an einem Ort, der andere wie ihren Bruder eingeengt hatte. Ein Spaziergang würde ihr helfen, die rasenden Gedanken und die Ängste zu bezwingen, die sich unbarmherzig in ihren Geist bohrten wie ein Akkuschrauber.
Rasch zog sie sich ihre Regenstiefel und ihre Regenjacke über und trat hinaus in die Dunkelheit. Regen hatte sie nie gestört. Ihre krause Mähne reagierte auf Feuchtigkeit wie die Kapselfrucht des Springkrautes, wenn sie aufging, aber es war ihr einerlei. Den Preis für die hübscheste Frisur wollte sie nie gewinnen, scherte sie sich doch kaum um ihr Haar.
Festen Schrittes machte sie sich zur üblichen Route durch das Dorf auf und begegnete keiner Menschenseele. Die Straßen waren verlassen, der zunehmende Regen drückte die Blätter der Gartengewächse nieder und verursachte ein sanftes meditatives Rauschen in ihren Ohren. Auf ihrer Runde schaute sie stets beim Hof der McGregors vorbei. Deren Haus ragte still und dunkel in die Nacht wie ein Mahnmal. Waren sie früh zu Bett gegangen?
Andrew und Sally waren es gewohnt, dass sie spontan vorbeikam. Sie würden sich nicht wundern, dass sie hier war. Oder die Polizei alarmieren, weil sie dächten, sie wäre ein Einbrecher. Ihr Hund Chicco, ein Berner Sennenhund, lümmelte in seiner Hütte rechts des Hauseinganges und hob müde den Kopf, als er sie erkannte. Sie kniete sich hin, um ihn hinter den Ohren zu kraulen. Sein schwarz-braun-weißes Fell war flauschig, wenngleich stumpfer geworden. Unter der fluffigen Fellschicht fühlte sie, wie abgemagert er war. Früher hatte sie ihn liebevoll als dicken Teddy bezeichnet, wenn er sich mit seinen großen Pfoten an ihr abgestützt oder seinen bärigen Körper an sie gedrückt hatte, bis sie das Gleichgewicht verloren hatte.
Seine Tumorerkrankung machte ihm zu schaffen, sonst hätte er sie am Tor wild schwanzwedelnd begrüßt.
Sie hätte gerne einen eigenen Hund gehabt, aber ihre Mutter hatte eine Tierhaarallergie. Daher hatte sie sich damit begnügt, Freundschaft mit dem Tier der McGregors zu schließen. Eine Freundschaft, die sie fünfzehn Jahre begleitete. Ein menschliches Äquivalent in dieser Funktion besaß sie nicht, mal abgesehen von Catherine, die für sie Großmutter, Freundin und Kollegin zugleich war.
Sanft murmelte sie Chicco ein paar liebe Worte zu, erhob sich und schritt zu der Pferdebox am Ende des Hofes.
Hoheitlich stand Felix dort und musterte sie aufmerksam, während sie eintrat und die trübe Funsel einschaltete. Er war das Pferd von Andrews und Sallys Tochter, die vor Jahren fortgezogen war. Das Ehepaar hätte ihn verkaufen können. Es war klar, dass sie Felix ihr zuliebe behielten, und sie war den beiden unendlich dankbar dafür.
In einer Schüssel außerhalb der Box lagen ein paar Karotten. Sie reichte Felix eine und streichelte über seine warmen, samtenen Nüstern, während er genüsslich auf der Möhre kaute. Die Laute erfüllten den gesamten Stall in der ihn umgebenden Geräuschkulisse. Das zarte Plätschern des Regens, der auf dem Wellblechdach ein zauberhaftes Konzert für sie spielte, spürte sie bis in die Fingerspitzen.
Sofern sie es einrichten konnte, kam sie her, um Felix für einen Ausritt zu entführen. Die Gelegenheiten waren bei weitem zu selten. Es gab wenig, was sie mit der gleichen Entspannung erfüllte, als von ihm durch den Wald oder die Heide getragen zu werden. Seine kräftigen Muskeln unter sich zu spüren und über das weiche schwarze Fell zu streicheln. Manchmal hatte sie die Melodie des Filmes Der Pferdeflüsterer im Kopf, wenn sie Felix zum Galopp anspornte, derweil sie an der Grenze zwischen Lowlands und Highlands vorbeiritt und sich treiben ließ. Die begleitenden Sensationen auf der Haut waren anders, als wenn sie das Musikstück hörte. Selbst ihre Erinnerung reichte aus, um ihr ein wohliges Gefühl zu bescheren, das untermalt wurde von der Erhabenheit und Freiheit, die sie nur auf dem Rücken eines Pferdes empfand.
»Ein andermal reiten wir wieder zusammen aus«, versprach sie. Dann klopfte sie ein letztes Mal auf seinen Hals, schloss seine Box und schlenderte bei Chicco vorbei, um ihm zum Abschied den Kopf zu kraulen.
Durch die Fenster der Wohnhäuser linste sie in das Innere, wie bei einem Adventskalender, der hinter seinen Türchen eine Überraschung verbarg. Da waren die Bungalows von Hamish und Ethel, die Werkstatt von Horatio, Odettes kleines Cottage … Sie kannte jeden Bewohner und deren Familien persönlich, teilweise über mehrere Generationen hinweg. Sie wusste, wer welchen Beruf ausübte, welcher Familienkrach herrschte. Welche Krankheiten die Leute beklagten und welche Medikamente sie benötigten. Im Laden war es nicht nur ein Austausch auf gesundheitlicher Ebene. Wenn man Menschen so lange kannte, gab es genügend Gesprächsstoff. Ob es die Hochzeit der Cousine, die Geburt eines Enkels oder die Einschulung des Sprösslings waren. Mhairi liebte es, Teil des Ganzen zu sein.
Da sie in der Apotheke häufig mit kleineren Verletzungen und Blessuren des Alltags zurechtkommen mussten, hatte sie eine Erste Hilfe Weiterbildung sowie einen Kurs zu Wundmanagement absolviert. Im Ort hatten sie keinen eigenen Arzt. Don, der Hausarzt, lebte einige Meilen entfernt. Mit der Ausbildung fühlte sie sich ansatzweise kompetent genug, um einschätzen zu können, was sie selbst und was besser ein Mediziner behandelte. Nichtsdestotrotz konsultierten die Bewohner sie regelmäßig als eine Art Medicus. Erst neulich war der betagte Rob zu ihr in die Apotheke gekommen. Mit einer Wunde, die eindeutig Nadel und Faden sowie eine Tetanusauffrischung erforderlich gemacht hätte. Was sie ihm genau so gesagt hatte.
»Ich schmiere einfach etwas Nivea drauf. Das mache ich bei meinem Kater auch immer, wenn der sich mit der Nachbarskatze geprügelt hat«, hatte er eingeworfen und den Finger in sein schmutziges Stofftaschentuch gewickelt. Am liebsten hätte sie die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und den Alkohol ausgepackt, um seine Wunde darin zu baden.
Nachdem sie ihm erläutert hatte, dass dies in ihren Augen nicht die richtige Behandlung dieser Verletzung sei, lenkte er ein – vermeintlich.
»Du kannst doch mit Nadel und Faden umgehen. Tu einfach so, als wäre ich ein Kleid. Ich werde schon nicht umkippen, Mädchen.«
Als sie sich weigerte, erwiderte er trotzig: »Gut, dann werde ich Ethel fragen.« Seine knapp neunzigjährige Ehefrau mit dem Tremor in den Händen und der Makuladegeneration.
So lief es hier bei ihnen. Und sie liebte jede Minute, die sie in diesem Ort verbrachte.
Heimat war für sie ein tief verwurzeltes Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit; das Einzige, das blieb, wie es war. Traditionen und Werte bedeuteten ihr etwas. Es schmerzte sie, dass ihr Geburtsort verfiel. Seit jeher erfüllte es sie mit Stolz, dass ihre Familie eine der Gründerfamilien des Ortes war. Wenn sie die Gräber ihrer Vorfahren auf dem Gelände der Parish Church pflegte, war sie ergriffen von all der Geschichte, die ihre Ahnen auf diesem Fleckchen Erde geprägt hatten. Sie fühlte sich in ihrer Heimat und ihrem Erbe verankert. Dass Menschen in die Namenlosigkeit einer Großstadt flohen, war für sie unbegreiflich. Sicherlich war es nett, wenn jemand nicht alles über einen wusste. Trotz ihrer zurückhaltenden Art hatte sie es nie so empfunden, als sei sie der Stadt ausgeliefert oder als könnte sie kein Geheimnis bewahren. Ihre Eigenheit der Synästhesie war kaum einem Einwohner bekannt. Die einen mystifizierten sie und betrachteten sie als eine Art Kuriosität. Die man womöglich in eine Fernsehsendung schleppte, damit sie Allerwelt berichtete, wie sie Tschaikowski als einen Schauer auf ihrer Haut spürte. Und dass Erstaunen ihr in einem distanzierten, selbstbewussten Nachtblau erschien. Die anderen fanden sie sonderbar, vielleicht sogar gefährlich in ihrer Andersartigkeit, und mieden sie. Sie zog oft Vergleiche mit den Hexenverfolgungen aus dem 16. Jahrhundert. Wenn einem an jemandem etwas nicht passte, wurde er als Hexe angeklagt und verbrannt. Mit ihren Sensationen und dem für Schotten so typischen Hang zum Aberglauben wollte sie nicht diejenige sein, der man den Tod des Wellensittichs in die Schuhe schob.
Beziehungen waren in einer Kleinstadt wie Clachan Dubh ein Problem, da sie in der Gemeinde die beste Nahrung für Klatsch und Tratsch lieferten. Ihr Bestreben war es, nie im Zentrum dieser Gerüchteküche zu stehen. Da sie jeden im Ort kannte, wer Hämorrhoidensalbe brauchte oder Medikamente gegen Chlamydien, reduzierte das ihre Männerauswahl auf einige wenige. Unter dieser Auswahl war keiner, mit dem sie ihre wertvolle und äußerst limitierte Freizeit verbringen mochte. Die meisten waren ohnehin zu alt. Sie verzichtete gerne darauf, dass hanebüchene Geschichten über sie kursierten. Wenngleich sie den Verdacht hegte, dass man sich im Pub erzählte, sie sei eine eiskalte Jungfer, die zu kratzbürstig war, um jemanden ranzulassen. Gelegentlich erhielt sie Einladungen für Rendezvous, die sie in der ihr eigenen Art abwies. Zuletzt wurden sie seltener. Es würde ihrer Eitelkeit keinen Stich versetzen, wenn sie ausblieben.
Mhairi war bisher mit einem Mann intim gewesen und das während ihrer Ausbildung in Edinburgh. Es war eher ein bringen wir es hinter uns als ein bahnbrechendes Ereignis. Den Job bekam sie allein wesentlich besser erledigt.
Keine Ahnung, warum um Sex so viel Aufhebens gemacht wird.
Sie hatte nicht das Gefühl, dass ihr etwas entging, wenn sie es bleiben ließ. In ihrem Leben existierten zwei Männer, die wirklich zählten, allein deshalb, weil sie mit ihnen verwandt war: ihr Dad und Sean.
In ihrer Kindheit hatte ihr Bruder sie auf Wanderungen durch die Umgebung mitgenommen. Außerdem hatte er ihr gezeigt, wie man sich in der Wildnis orientierte und respektvoll mit der Flora und Fauna umging. Sie waren zum Loch gegangen oder in die Wälder, manches Mal zum Dunglass Castle und dort umhergestromert. Letzteres mied sie seit geraumer Zeit. Früher hatte der geschichtsträchtige Ort sie gereizt. Nach den ausgedehnten Renovierungsarbeiten hatte sie es indes nicht mehr aufgesucht. Auch heute schwenkte sie zu einer Runde durch den Wald ab und ließ das Castle links liegen.
Der weiche, nasse Boden quatschte und platschte unter ihren harten Schritten. Der Regen wurde durch das Blätterdach abgemildert, als schützte sie ein Schirm. Ihre roten Gummistiefel hielten die Nässe zuverlässig fern.
Manch einer hätte sich vor der Dunkelheit des Waldes gefürchtet. Doch Mhairi kannte sich aus. Sie hieß die Flucht willkommen, die ihr die hohen Bäume bescherten, als wären sie Palisaden für ihre inneren Verteidigungsbastionen. Über deren Wipfeln erhellte der Vollmond die Nacht ausreichend genug, um den kleinen Pfad auszumachen, dem sie folgte.
Auf einem umgekippten Baumstamm machte sie Halt. Ihr Atem ging schnell, und ihr war warm in der undurchlässigen Regenjacke. Ein Schweißfilm lag auf ihrer Stirn, und ihr Pulsschlag pochte in ihren Ohren. Das Gefühl war seltsam belebend und löste den Klammergriff der Angst, der um ihren Brustkorb lag. Ihre Spaziergänge waren keine Trödelei, sondern eher mit einem schnellen Marsch zu vergleichen.
Kurz durchatmend öffnete sie den Reißverschluss ihrer Jacke. Mhairi hieß die kühle Luft auf ihrer erhitzten Haut willkommen und begrüßte die Erfrischung, die ihr eine leichte Gänsehaut über die Arme kriechen ließ. Mit geschlossenen Augen atmete sie die feuchte Waldluft ein, den Geruch der nassen Erde, der Moose, Hölzer und Blätter. Ein Regentropfen fiel auf ihre Wange und suchte sich den Weg hinab zu ihrem Mundwinkel. Sie wischte ihn fort.
Und fahndete nach Antworten.
Würden sie einen Käufer für die Apotheke finden? Wenn nein, wo könnte sie arbeiten? Wie ging es mit ihren Eltern weiter, wenn sie nicht in der Nähe war? Sollte sie sie mitnehmen, sofern sie einen neuen Job fand?
Letzteres war undenkbar.
Ihre Familie würde niemals diesen Ort verlassen. Mhairi verstand das. Sie wollte auch nicht gehen. Davon abgesehen, könnten sie sich einen Umzug nicht leisten. Das Haus war an die Bedürfnisse ihrer Mutter angepasst. Es gäbe schwerlich einen adäquaten Ersatz. Keinesfalls hätten sie die Mittel für Umbauten.
Sie hasste es, so wenig Geld zu haben. Obwohl sie schuftete, obwohl ihre Eltern Rente bezogen, war es für das Haus, für die Versicherung und die Behandlungskosten am Ende des Monats nie genug.
Derweil andere Häuser bauten, Reisen planten oder sich ein neues Auto zulegten, versuchten sie mit dem wenigen, was ihnen blieb, für schlechte Zeiten vorzusorgen, die unweigerlich kamen. Mhairi konnte sich kaum entsinnen, wann sie je etwas Neues gekauft hatten. Von der gemusterten Küche angefangen, über den Steinzeit-Fernseher und die alte Schrottkarre ihres Dads, war alles ein Begleiter ihres Alltags, seit sie denken konnte.
Ihre Existenzängste blieben. Damit einher ging ein Gefühl des Ausgeliefertseins, das niemand begreifen konnte, der nicht selbst schon einmal in einer solchen Lage war. Da waren nicht nur Backsteine auf ihren Schultern. Sondern ein ganzer Steinbruch.
Der Drang, sich zu erheben und weiterzulaufen, ließ sie aufstehen. Doch sie könnte weitere fünfzig Meilen marschieren … Wenn sie die Augen schloss, sah sie nur die Farbe Violett.
Und vor der konnte sie nicht fliehen.
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