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Leseprobe zu Nuestro Sol

  • Autorenbild: Lisa und Anna
    Lisa und Anna
  • 24. Juni
  • 11 Min. Lesezeit

La oportunidad

Die Gelegenheit

Aurelia


Du bist eine Inspiration, Aurelia. Seitdem ich deine Seite kenne, habe ich vieles überdacht, das für mich immer selbstverständlich war. Danke dafür.

Ich scrollte durch die Reaktionen unter meinem neuesten Instagram-Beitrag, in dem ich vegane Tapas-Rezepte geteilt hatte. Was würden die Follower denken, wenn sie wüssten, dass ich um halb sieben morgens grinsend im Bett lag und mir am liebsten jeden der Kommentare ausdrucken und an die Wand hängen würde? Zur Motivation, wenn ich mal wieder zweifelte, oder jemand meine Inhalte als panikmachende Schwarzmalerei und Weltverbesserer-Bullshit bezeichnete. Alles schon erlebt. Und dennoch kämpfte ich weiter für den Tierschutz. Es war das Herzensthema meines Lebens. Bereits mit vier Jahren hatte ich Regenwürmer gerettet und streunenden Katzen einen Unterschlupf in unserer Garage gebaut. Zum Leidwesen meiner Eltern, die damit leben mussten, dass der Stellplatz für ihr Auto regelmäßig in ein provisorisches Tierheim verwandelt wurde. Glücklicherweise waren sie genauso tierlieb wie ich. Ihre verständnisvollen Blicke von damals hatten mich über die Jahre hinweg begleitet und darin bestärkt, niemals etwas aufzugeben, das mir wichtig war. Dass mein Instagram-Account fast fünfzigtausend Follower erreicht hatte, zeigte mir, dass es da draußen Gleichgesinnte gab, und das tat mir gut. Es vertrieb den hartnäckigen Gegenwind, der mir von Zeit zu Zeit die Motivation nahm.

Nachdem ich geduscht hatte und mein dunkelbrauner Bob, der zwischen dem Kinn und der Schulter endete, wieder in leichten Wellen mein Gesicht umrahmte, saß ich mit einer Tasse Kaffee am Küchentisch, den ich nur zum Essen aus seiner Wandhalterung ausklappte. Mein Handy klingelte und unterbrach die Übertragung von Cope Sevilla. Obwohl ich schon seit zehn Jahren in Madrid wohnte, konnte ich mich nicht von meinem Lieblingsradiosender trennen und war dankbar für die Erfindung des Webradios. Das brachte wenigstens ein bisschen Sevilla-Feeling zu mir nach Hause. Gegen das Heimweh, das mich gelegentlich übermannte, richtete aber auch das nicht viel aus. Ein Blick auf das Display verriet, dass mein Arbeitskollege anrief.

»¡Hola, Felipe! Was ist los? Habe ich einen Termin vergessen?« Ein Anflug von Panik erfasste mich und ich ging gedanklich die Woche durch. Einen solchen Fehler durfte ich mir als junge Reporterin, die gerade beim Sender Fuß gefasst hatte, nicht leisten. Die Moderation kleiner, lokaler Sendungen beim Madrider Fernsehsender ¡Aquí! war zwar erst der Anfang meiner Karriere, aber ich fühlte mich dort wohl und wollte nichts riskieren.

»Guten Morgen, Aurelia. Nein, keine Sorge. Du bist nicht zu spät. Ich möchte dich nur vorwarnen, falls du deine Mails noch nicht abgerufen hast. Pérez will uns beide sehen. Um acht. Keine Ahnung, ob das gut oder schlecht ist.«

Ich schluckte. Die Produktionsleiterin bestellt uns in ihr Büro? Madre de Dios! »Was? Weißt du, wie die Einschaltquote von Chueca regional letzte Woche war? Haben wir etwas verbockt? War es nicht modern genug? Gab es Kritiken?«

Felipes Stimme nahm einen beruhigenden Tonfall an. Er war durch nichts aus der Fassung zu bringen. »Jetzt warte es doch erst einmal ab. Du warst großartig! Mach dir keine Sorgen, niemand ist bisher mit abgetrenntem Kopf aus Pérez' Büro gekommen, oder? Auch wenn sie Haare auf den Zähnen hat.«

Ich erlaubte mir einen tiefen Atemzug. »Dein Wort in Gottes Ohr. Ich komme jetzt. Bis gleich. Und danke für die Warnung.«

»Für dich doch immer.« Er legte auf.

Ich setzte die Tasse an und trank den Rest des heißen Kaffees in einem Zug aus, was mich dazu brachte, ein paar Mal schnell ein- und auszuatmen, um meinen Mund abzukühlen. Durch ein zu heißes Getränk im Krankenhaus gelandet, um einem Gespräch mit der Produktionsleiterin zu entgehen. Das wäre eine typische Aurelia-Fuentes-Aktion. Ich schüttelte über mich selbst den Kopf, zog im Flur vor dem Spiegel meinen roséfarbenen Lippenstift nach und verließ die Wohnung.


Unterwegs postete ich ein Selfie mit der Sonne im Rücken und wünschte meinen Followern einen guten Morgen, wie jeden Tag. Mein Blog und der Instagram-Account @au-real-ia waren ein Teil von mir. Ich achtete darauf, nicht zu viel aus dem Privatleben preiszugeben, aber dennoch nahbar zu bleiben, und nicht nur über Umwelt- und Tierschutz zu schreiben, sondern auch den Menschen hinter den Kulissen zu zeigen. Dass ich mir im Moment vor Nervosität fast in die Hose machte, brauchte allerdings niemand wissen. Über den Job bei ¡Aquí! schrieb ich im Internet nichts. Es reichte mir, dass die Follower mich in diversen regionalen Reportagen sahen und manchmal unter den Sendungen in der Mediathek kommentierten.


Ich betrat das Gebäude, in dem die Büros des Senders ansässig waren, durch den unscheinbaren Eingang. Vom Image der glitzernden TV-Branche war hinter den Kulissen nichts zu sehen. Es war regelrecht unspektakulär. Ein Großraumbüro mit zehn Arbeitsplätzen, ein paar Einzelbüros der Chefetage, eine Kaffeeküche, ein Cutting-Room und einige Räume, in denen das technische Equipment aufbewahrt wurde – mehr gab es hier nicht zu sehen.

Ich setzte mich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und schloss die Augen, um mich zu fokussieren und mir Pro-Argumente im Kopf zurechtzulegen, falls Pérez etwas an meiner und Felipes Arbeit auszusetzen hatte. Die aktuelle Sendung war perfekt auf die Zielgruppe abgestimmt, abwechslungsreich und informativ, aber trotzdem unterhaltsam gewesen. Außerdem hatte das Team sie abgesegnet. Doch wer weiß, einem Branchen-Fossil wie Inés Pérez würde sicher jede Kleinigkeit auffallen, die bei der Kontrolle durchgerutscht sein könnte.

»Hi, Leidensgenossin!« Felipe setzte sich an den benachbarten Schreibtisch und reichte mir eine der beiden Kaffeetassen, die er mitgebracht hatte. »Du siehst aus, als würdest du die Sendung gedanklich auseinandernehmen. Zerbrich dir nicht den Kopf, das wird halb so schlimm. Wir fechten das gemeinsam aus, egal, was es ist.« Er fuhr sich durch die hellbraunen Haare, die er nach hinten gestylt hatte, doch durch das Gel blieb seine Frisur unversehrt.

Ich nickte zaghaft und öffnete das Mail-Programm, um zu checken, ob ich eine weitere wichtige Nachricht verpasst hatte. Aber bis auf den Rückblick der vergangenen Woche war nichts angekommen. »Ich kann mir absolut keinen Grund vorstellen, weshalb sie ausgerechnet uns sehen will.«

Eine schneidende Stimme unterbrach meine Überlegungen. »Hey, Au-real-ia, was macht deine Follower-Zahl? Hast du endlich die Fünfzigtausend geknackt? Du musst zum Boss, hab ich gehört? Vielleicht wirst du ja gefeuert und kannst Vollzeit-Weltverbesserin werden.«

Por Dios, der hat mir gerade noch gefehlt.

Pedro war einer der Redakteure des Senders, hatte viele kreative Ideen, aber ließ keine Gelegenheit aus, sich über andere lustig zu machen. In meinem Fall bedeutete das, mich wegen der Instagram-Sache aufzuziehen und meinen Namen jedes Mal wie den Accountnamen auszusprechen, mit dem englischen ›real‹ in der Mitte. Felipe hing ebenfalls regelmäßig im Zentrum seiner Zielscheibe, auch wenn er bei ihm außer seiner Liebe für Marvel-Filme und Mangas weniger Angriffsfläche fand als bei mir.

Mittlerweile hatte ich gelernt, seine Kommentare zu ignorieren, aber heute war ich zu dünnhäutig dafür und feuerte zurück. »Du schenkst meinem Profil ja viel Beachtung, wenn du sogar die Anzahl der Abonnenten kennst. Ich hätte dir gar nicht zugetraut, dich für Tiere zu interessieren. Die haben ein feines Gespür für Charakter, weißt du?«

Felipe gab ein leises Prusten von sich, das nach einem unterdrückten Lachen klang und glücklicherweise von seiner Tasse gedämpft wurde.

Pedro drehte uns ohne ein weiteres Wort den Rücken zu.

Felipe hob anerkennend die Augenbrauen. »Das hat gesessen. Ich hatte keine Ahnung, dass du so schlagfertig sein kannst. Bin beeindruckt.«

»Besondere Situationen erfordern besonderen Einsatz.« Ich schielte auf meine Armbanduhr. Fünf vor acht. »Sollen wir los, in die Höhle der Löwin?«

Felipe nickte. Seine Kieferknochen mahlten, was mich auf absurde Art und Weise beruhigte. Er schien doch nervös zu sein. »Vamos. Je schneller wir es hinter uns bringen, desto besser.«


Inés Pérez saß hinter ihrem hellen Schreibtisch, der auf Hochglanz poliert war, und hatte die Hände gefaltet. Ihr Ruf als Arbeitstier und eiserne Lady von ¡Aquí! eilte ihr voraus, auch wenn ihr perfekt aufgeräumtes Büro vermuten ließ, dass sie keinen Finger krümmte. Eine weiße Mappe, eine ebenso weiße Kaffeetasse und eine Lesebrille mit cremefarbenem Gestell lagen sorgfältig drapiert neben der Tastatur ihres PCs, als wäre es Dekoration für das ästhetische Foto eines Arbeitsplatzes. Der Gegensatz zu dem kreativen Chaos aus bunten Notizbüchern und Kugelschreibern auf meinem Schreibtisch schnürte mir kurz die Luft ab. Sie spielte in einer anderen Liga – und das zeigte sie.

»Ah, Señora Fuentes, Señor Moreno, schön, dass Sie so kurzfristig kommen konnten.«

Als ob wir eine Wahl gehabt hätten.

Sie nickte uns zu, wobei sich ihre makellos gestylte dunkle Kurzhaarfrisur nicht einen Millimeter bewegte.

»Guten Morgen.« Felipes Stimme ließ einen Hauch Unsicherheit durchsickern, der mir nur auffiel, weil wir uns über ein Jahr lang kannten und täglich zusammenarbeiteten. Er nahm auf dem rechten Stuhl Platz.

Ich grüßte unsere Chefin ebenfalls und setzte mich neben Felipe. Ein unangenehmer Kloß wuchs in meinem Hals und ich war froh, dass ich erst einmal nichts sagen musste. Mein Puls hämmerte in den Ohren und ich konzentrierte mich darauf, ruhig zu atmen.

»Ich habe Sie heute hierhergebeten, weil ich Ihnen ein Angebot unterbreiten möchte.« In ihrem Gesicht zeichnete sich ein verhaltenes Lächeln ab.

Puh! Gott sei Dank keine Standpauke. Aber – ein Angebot? Meine Gedanken spielten in Sekundenschnelle die Möglichkeiten durch, die sich hinter Pérez' Satz versteckten, aber ich ermahnte mich, nicht zu viel zu erwarten.

»Ihre Reportage über das bunte Chueca ist durch die Decke gegangen, um es salopp auszudrücken. Wir hatten so gute Einschaltquoten wie schon lang nicht mehr, vor allem in der jüngeren Altersgruppe, die wir wieder vermehrt erreichen wollen. Die Aufzeichnung in der Mediathek hatte so viele Views wie keine andere Reportage der letzten zwei Jahre. Es sieht so aus, als hätten Sie den Nerv der Zeit genau getroffen, Señora Fuentes. Sogar auf unserem eingeschlafenen Instagram-Account war die Reichweite nach der Sendung größer. Die Insights auf den Social-Media-Plattformen sprechen klar für Sie als Team.«

Ich konnte nichts erwidern. Nur nicken und meine Mundwinkel davon abhalten, mich in ein grinsendes Honigkuchenpferd zu verwandeln.

»Lange Rede, kurzer Sinn: Wir haben beschlossen, dass es für Sie an der Zeit ist, nicht mehr nur regional zu berichten. Wir finden, dass Sie mit Ihrer direkten und offenen Art und Señor Moreno mit seiner modernen Kameraführung frischen Wind in eins unserer angestaubten Prime-Time-Formate bringen könnten.«

Was hat sie gerade gesagt? Wir beide im Abendprogramm? Mein Herz stolperte und meine Wangen glühten.

Felipe neben mir schluckte sichtbar und krallte seine Finger in die Lehne des Stuhls.

»Ist Ihnen La Verdad ein Begriff?«

»Die Enthüllungssendung, meinen Sie?« Seine Stimme bebte vor unausgesprochener Aufregung.

»Richtig. Jede Woche wird ein Thema beleuchtet, über das sonst keiner spricht. Es werden unangenehme Wahrheiten aufgedeckt, bezüglich der Lebensmittelindustrie, Zuständen an Arbeitsplätzen oder anderen kontroversen Themen, die Spanien bewegen. Leider ließen die Quoten in letzter Zeit zu wünschen übrig und wir sehen uns gezwungen, etwas zu tun. La Verdad braucht eine Sensation, um endlich im Jahr 2024 anzukommen.« Sie löste ihre verschränkten Finger und breitete die Hände aus. »Und da kommen Sie ins Spiel. Wir sind uns sicher, dass das nächste Thema bei Ihnen beiden gut aufgehoben wäre. Señor Moreno, Sie haben ein Gespür für Ästhetik, Details und die richtigen Momente. Und Señora Fuentes ist exakt das Gesicht, das wir suchen. Jung, temperamentvoll, schlagfertig.«

Ich blinzelte einige Male, bis ich antworten konnte. »Ich … soll … eine Prime-Time-Sendung übernehmen?« Meine Stimme klang, als würde ich ehrfürchtig eine Zauberformel sprechen – und genauso fühlte es sich an.

»Ja. Wir müssen natürlich noch die Einzelheiten besprechen, aber ich weiß aus sicherer Quelle, dass Sie an dem Thema der Sendung sehr interessiert sein werden.«

Ich überlegte, ob die Wendung, die das Gespräch gerade nahm, spannend oder beängstigend war. »Und worum geht es?«

Felipe biss sich auf die Unterlippe.

Inés Pérez lächelte schmal. »Sie werden nach Sevilla reisen. Ihre alte Heimat, wie ich mir habe sagen lassen, Señora Fuentes. Und außerdem befindet sich dort die größte und wichtigste Stierkampfarena Spaniens.«

Nein! Das kann nicht ihr Ernst sein! Bitte nicht! Wieso ausgerechnet dieses Thema? Unter allen Themen dieser Welt, warum das? Ich schloss für eine Sekunde die Augen und wünschte mich in meine kleine Regionalsendung zurück. Zu den Restaurant-Eröffnungen, Jubiläen und Vereinsveranstaltungen, weit weg von Kontroversität. Mit Kopfsprung hinein in die kuschelige Komfortzone und nie wieder herauskommen.

Felipe räusperte sich. »Darum soll es gehen? Stierkampf?« Er warf mir einen skeptischen Seitenblick zu. »Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, Señora Pérez, aber das ist nichts, womit man Leute in unserem Alter ins Boot holt. Eher im Gegenteil.«

Ich sog die Luft ein. So konnte er unmöglich mit der Produktionsleiterin reden. Auch wenn er exakt meine Gedanken aussprach.

Pérez entfuhr ein kurzes Lachen. Dann wurden ihre Gesichtszüge weicher. »Sie verstehen mich falsch, genau das ist der Punkt. Wir glorifizieren die Stierkampf-Tradition nicht, wie es viele andere Reportagen in diesem Land schon getan haben. Wir zeigen die grausame Wahrheit. Das, was alle wissen, aber jeder verdrängt. Skrupellose Toreros, ein lächerlich sensationsgeiles Publikum und das unsinnige Festhalten an dieser Tradition, die schon längst nicht mehr zeitgemäß ist. Führen Sie das den Zuschauern vor Augen. Unzensiert. Tier- und Umweltschutz ist präsenter denn je in der Öffentlichkeit. Die Sendung soll eine Diskussionswelle auslösen, am besten in den sozialen Medien – dort warten die Menschen nur darauf, dass jemand einen Skandal zur Sprache bringt, auf den sie sich stürzen können. Wir wissen, dass die Mehrheit der Spanier mittlerweile gegen die Tauromaquia ist – vielleicht fehlt nur ein letzter Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, um auch in Andalusien ein Stierkampfverbot durchzusetzen. Wäre das nicht Ihre große Chance als aktive Tierschützerin? Stellen Sie sich diese Sensation vor.«

Mein Herz schlug einige aufgeregte Schläge. Mir war klar, dass Pérez in erster Linie ihre Sendung promotete, aber dass sie ein solches Plädoyer für Tierschutz halten konnte, hätte ich nicht erwartet. Diese Reportage würde die größte Herausforderung meiner bisherigen Karriere werden – vielleicht meines Lebens. Und gleichzeitig die beste Gelegenheit, etwas zu bewegen. Nicht nur im kleinen Kreis meiner Follower, sondern in einer ganzen Stadt. Mit einem Mal wurde mir das Gewicht dieser Aufgabe klar und ich sackte darunter ein Stück zusammen. Es war nicht nur meine Abneigung gegen den Stierkampf, die dieses Thema schwierig machte. Das Ganze war viel persönlicher. Doch das ließ ich jetzt nicht an mich heran. »Was, wenn wir es nicht schaffen? Wenn die Sendung kein Interesse weckt und eine Diskussion ausbleibt?«

Unser Gegenüber zog die Augenbrauen hoch, als wäre diese Überlegung nicht der Rede wert. »Sprechen wir nicht über das Was-wäre-wenn, Señora Fuentes, sondern über das Wie.« Sie räusperte sich verheißungsvoll. »Bisher waren Reportagen über Stierkampf viel zu allgemein gehalten. Was die Leute wollen, sind Einzelschicksale. Identifikationsfiguren – oder solche, die polarisieren. Sie werden einem der vielversprechendsten jungen Matadoren Sevillas auf den Zahn fühlen. Treiben Sie ihn in die Enge, stellen Sie ihm die unangenehmen Fragen. Und Sie, Señor Moreno, filmen gnadenlos. Lassen Sie ihn glänzen und scheitern. Zeigen sie den Torero so, dass den Zuschauern am Ende der Sendung die Augen geöffnet wurden.«

Felipes Hände umklammerten immer noch die Stuhllehnen. »Wann soll das Projekt stattfinden?«

Pérez tippte etwas in Ihren PC ein. »Wir werden Sie natürlich zur Feria de Abril nach Sevilla schicken. Nirgendwo sonst ist der Stierkampf so präsent wie auf diesem Festival. Die Feria startet in einer Woche. So haben Sie genug Zeit, sich gemeinsam eine Strategie zu erarbeiten. Im Handout, das ich Ihnen gerade geschickt habe, finden Sie die wichtigsten Eckpunkte und Veranstaltungen während Ihres Aufenthaltes. Die Folge wird dann zeitnah gesendet, damit die Menschen die Feria noch im Gedächtnis haben. Lesen Sie sich gern alles in Ruhe durch und sagen Sie mir bis morgen Bescheid, ob Sie sich dem gewachsen fühlen.«

Felipe ließ seinen Blick über den Schreibtisch wandern, dann sah er Pérez an. »In Ordnung, wir melden uns so schnell wie möglich.«

Sie nickte langsam und in ihrem Blick lag ein Hauch von Siegessicherheit. »Ich danke Ihnen für Ihre Zeit. Einen schönen Tag noch.«

»Ihnen auch, Señora Pérez«, sagte ich und reichte ihr die Hand.

Felipe tat es mir gleich, bevor wir das Büro verließen. Er drehte sich zu mir um, als die Tür geschlossen war, und grinste vielsagend. »Aurelia Fuentes López … du hast sie umgehauen!«

Meine Mundwinkel schossen nach oben und ich konnte nicht anders, als ihm in die Arme zu fallen, aus Erleichterung und Überforderung gleichermaßen. Mir war völlig egal, ob uns jemand sah. »Du auch, Herr Kollege! Por Dios, ich habe so Angst, dass wir das nicht schaffen.«

Er löste sich von mir und schüttelte den Kopf. »Keine Sorge, das kriegen wir hin. Du hast früher in Sevilla gewohnt? Das wusste ich gar nicht.«

Mein Lächeln bröckelte. Die Vergangenheit dort war wie ein Karton im Keller, den man jahrelang aufbewahrt, weil man es nicht übers Herz bringt, ihn wegzuwerfen, auch wenn man ihn nie öffnet. Der Inhalt schmerzt zu sehr.

»Ja. Meine Eltern haben ein Jobangebot hier angenommen, als ich fünfzehn war. Mitten in der Pubertät umzuziehen, war rückblickend nicht die beste Idee. Madrid hat sich zwar mit der Zeit auch einen Platz in meinem Herzen gesichert, aber die Heimat bleibt eben immer mit vielen Erinnerungen verbunden.« Meine Stimme nahm einen melancholischen Ton an, den ich gar nicht zulassen wollte. Rückblicke aus Sevilla schlichen sich in meinen Kopf, als wäre es gestern gewesen, dass ich die alte Schule und meine Freunde verlassen musste. Vor allem den Menschen, der mir damals am meisten bedeutet und mich im Nachhinein am stärksten enttäuscht hatte. Er verdiente es nicht, dass ich überhaupt an ihn dachte.

»Erde an Aurelia«, sagte Felipe und wedelte mit seiner Hand vor meinem Gesicht herum wie ein Scheibenwischer.

»Was? Entschuldige, ich war in Gedanken.«

»Ich habe nur gesagt, dass wir uns an die Arbeit machen sollten, damit wir morgen vor Pérez nicht mit leeren Händen dastehen.« Er zwinkerte und wir kehrten zurück zu unserem Arbeitsplatz.

»Guter Plan. Los geht's«, sagte ich, mehr zu mir selbst und schlug den Kellerkarton in meinen Gedanken zu. Zum Teufel mit dem Inhalt, der sowieso nur wehtut!


Den Rest des Tages verbrachten wir an meinem Schreibtisch, wo wir die Köpfe über dem Handout zusammengesteckt hatten. Felipe machte sich Anmerkungen auf seinem Tablet und ich kritzelte in ein zerfleddertes Notizbuch. Wenn mein Gehirn vor Ideen übersprudelte, half es mir, alles handschriftlich festzuhalten. Mit einem Stift schreiben, gab mir das Gefühl, mehr geschafft zu haben als digital.

Wir waren zufrieden mit unserem ersten Brainstorming und entschlossen, der Produktionsleiterin morgen zuzusagen.

Ich würde nach Sevilla zurückkehren.

In die Stadt, in der ich vor zehn Jahren mein Herz verloren hatte.


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