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Leseprobe zu Hiding Hearts

 
 

Kapitel 1

Jeder einzelne Muskel in meinem Körper war angespannt, während ich eine dreifache Pirouette drehte. Ich war hochkonzentriert. Der Ballettsaal flog an mir vorbei, bis ich schließlich in der vierten Position mit einem Bein nach hinten gestellt landete und in die nächsten Schritte der Kombination überging. Soutenue, Plié, Ecarté, Plié und dann stehen. Ich hielt die Endposition zwei Sekunden, bevor Monsieur Fournier das Handzeichen gab und ich gemeinsam mit meinen beiden Kommilitoninnen die Tanzfläche frei machte und zum Rande des Saals ging. Die nächsten drei waren dran.

Ich studierte am nationalen oberen Konservatorium für Musik und Tanz in Paris. Einem riesigen weißen Betonklotz, der in vier verschiedene Gebäude unterteilt war, die aber alle über das Dach miteinander verbunden waren. Als ich die Schule zum ersten Mal gesehen hatte, war ich davon überzeugt gewesen, dass der Baustil mit seinen schmalen, aber hohen Fenstern und dem schiffsartigen Überbau modern war. Ich war mir sicher gewesen, dass es toll werden würde, hier zu leben und zu studieren. Doch nach fast drei Jahren war die anfängliche Euphorie verflogen und ich sah nur noch die Kälte und Eintönigkeit dieses Gebäudes. Der Unterricht war hart. Jegliche Vorstellung von professionellem Ballett war eine Untertreibung dessen, was man hier erlebte. Als Kind träumte man von Glitzer und rosa Tutus, mit meinen einundzwanzig Jahren hoffte ich darauf, nicht von unseren Trainern vor allen Leuten vorgeführt zu werden, weil ich nicht gut genug war.

Ich beobachtete die nächsten Tänzerinnen genau. Valérie drehte die Pirouetten fehlerfrei, landete elegant, und auch den Rest der Kombination meisterte sie, als würde es sie nicht einmal anstrengen. Wie schaffte sie das?

»Die nächsten!«, rief unser Trainer und das ging so lange, bis alle die Kombination dreimal durchgetanzt hatten. Wir teilten uns für kurze Sequenzen gern in mehrere kleine Gruppen auf, damit wir zum einen genug Platz im Saal hatten, und damit Monsieur Fournier zum anderen jede von uns genau analysieren konnte.

Die Musik stoppte und wir beendeten die Unterrichtsstunde mit einfachen Bewegungen und Dehnungen an der Stange.

»Das Training heute hatte es in sich«, seufzte Julie, die neben mir ihre Spitzenschuhe auszog. Sie hatte das Wohnheimzimmer nebenan und versuchte immer wieder mit mir ins Gespräch zu kommen. Sie war nett, aber ich hatte kein Interesse daran, Freundschaften zu schließen. Ich war hier, um zu tanzen und besser zu werden, damit ich irgendwann in den Chor der Pariser Oper aufgenommen wurde. Das Ziel war hoch gesteckt, das war mir bewusst, aber deswegen durfte ich mir auch keine Ablenkungen erlauben.

»Findest du nicht?«, hakte sie nach.

»Doch, klar«, gab ich knapp zurück und massierte meine Füße, die nach stundenlangem Spitzentraining immer weh taten. Am besten kühlte ich sie nachher in einem Eimer voller Eiswasser. Das linderte die Schmerzen.

»Wollen wir später zusammen Abendessen?«, fragte Julie und sah mich hoffnungsvoll an. Sie lächelte und wischte sich eine locker gewordene braune Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Ich weiß noch nicht, wann ich heute hingehe, aber frag doch Valérie.« Ich nickte in Richtung meiner Mitbewohnerin.

»Was ist mit mir?« Sie tauchte neben uns auf, ihre Tasche über der Schulter hängend. Selbst nach stundenlangem Training saß ihr Haarknoten perfekt. Wie konnte alles an ihr mühelos aussehen?

»Abendessen«, erklärte ich und nahm einen großen Schluck aus meiner Wasserflasche.

»Ja, klar. Gibt es heute nicht Ratatouille?«

Julies Augen funkelten. »Ja und das war letztes Mal richtig lecker.«

Die beiden unterhielten sich darüber, was es im Laufe der Woche sonst noch zu essen geben sollte, während ich meine Sachen in meine Tasche stopfte und aufstand. »Wir sehen uns«, verabschiedete ich mich und machte mich auf den Weg in den Wohnheimtrakt. Valéries und mein Zimmer lag am Ende des Flurs. Es war länglich und ziemlich klein. Sowohl an der linken als auch an der rechten Wand stand ein Einzelbett aus dunklem Holz mit einem schmalen Nachttisch daneben. Vor dem Fenster gab es einen großen Schreibtisch, den Valérie und ich uns teilen mussten, genauso wie den Kleiderschrank hinter der Tür. An den Wänden auf Valéries Seite klebten zahlreiche Fotos ihrer Familie und Freunde. Die Klamotten, die nicht mehr in ihre Kleiderschrankhälfte passten, hingen alle über ihrer Bettlehne, und ihre Schuhsammlung türmte sich daneben. Im Gegensatz dazu sah meine Hälfte des Zimmers unbewohnt aus. Ich hatte keinerlei Fotos aufgehängt und die wenigen Klamotten, die ich mitgebracht hatte, waren allesamt sorgfältig im Kleiderschrank verstaut. Unter meinem Bett befand sich normalerweise nur meine Sporttasche und auf dem Nachttisch ein Wecker, sonst nichts. Bei Valérie stapelten sich darauf Bücher, Kopfhörer und all ihr Schmuck. Ich hatte nie das Bedürfnis verspürt, mich hier häuslich einzurichten. Es kam mir schlichtweg falsch vor. Das Gefühl, nicht an diesen Ort, diese Schule, zu gehören, verfolgte mich bereits über zwei Jahre. Mittlerweile hatte ich keinerlei Hoffnung mehr, je anders zu empfinden. Dabei konnte ich gar nicht genau sagen, woran es lag. Ob der ständige Druck in diesem Studium daran schuld war? Das Ballett an sich? Oder die Menschen, in deren Umfeld ich mich nie wirklich angekommen fühlte? Vielleicht war ich aber auch einfach nur unzufrieden mit mir, und folglich mit allem in meiner Umgebung.

Im Badezimmer schälte ich mich aus meinem Balletttrikot und der champagnerfarbenen Strumpfhose, ehe ich die Nadeln aus meinem Knoten zog, sodass meine blonden Haare in einem tiefen Pferdeschwanz meinen Rücken hinabfielen. Als ich auch das Haargummi entfernte, hätte ich am liebsten aufgestöhnt. Die straffe Frisur machte meiner Kopfhaut zu schaffen.

Genau in dem Moment, als ich hörte, wie die Zimmertür aufging, drehte ich das Wasser in der Dusche auf. Valérie hasste es, wenn ich lange duschte und sie dadurch ewig warten musste. Oft ließ ich ihr deswegen den Vortritt, aber heute wollte ich einfach nur noch in mein Bett. Und das so schnell wie möglich. Die Muskeln in meinem Nacken waren hart wie Stein und mein Kopf pochte. Innerlich stimmte ich Julie zu. Das Training hatte es in sich gehabt.

Als ich aus der Dusche trat, war der Spiegel über dem Waschbecken beschlagen. Schnell wischte ich mit meinem Handtuch drüber und betrachtete mich darin. Dünn zu sein war im professionellen Ballett wichtig. Daher achtete ich strikt auf meine Ernährung, denn der Sport allein genügte nicht.

»Wie lange brauchst du noch?«, rief Valérie genervt durch die Tür. Doch anstatt ihr zu antworten, trocknete ich mich schnell ab, schlüpfte in ein paar bequeme Sachen und verließ das Badezimmer mit meinem Föhn.

»Du kannst.«

»Endlich.« Sie saß bereits nur mit einem Handtuch bekleidet auf ihrem Bett und sprang auf, sobald ich den Weg freimachte.

Wenn jemand dachte, dass man sich nach zwei Jahren Zusammenwohnen zwangsläufig irgendwann anfreundete, hatte er sich geirrt. Valérie und ich waren uns zwar in gewissen Dingen ähnlich, unterschieden uns in anderen aber wie Tag und Nacht. Monsieur Fournier verglich uns im Training oft miteinander, obwohl ich bis heute nicht verstand, wieso. Valérie war in allem besser als ich und vielleicht war ich auch deshalb oft genervt von ihr.

Bevor ich mir die Haare föhnte, schickte ich meiner Mutter ein Video, das ich heute früh aufgenommen hatte. Ab und zu ging ich vor den offiziellen Stunden schon in den Saal, um für mich selbst zu trainieren. Und da meine Mutter seit Wochen auf mich einredete, dass ich ihr ein Video von meinem aktuellen Training schicken solle, hatte ich mich heute Morgen dazu durchgerungen, mich zu filmen.

Mein Herz klopfte, als ich es abschickte, weil ich genau wusste, wie kritisch Maman war. Sie hatte selbst früher Ballett getanzt, allerdings nie eine professionelle Karriere in Erwägung gezogen, weil sie das Modeunternehmen ihres Vaters übernehmen sollte, was sie letztendlich auch getan hatte. Durand. Eine Luxusmodemarke, die inzwischen auf der ganzen Welt vertrieben wurde. Sie ging in ihrem Job vollkommen auf, doch manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie es bereute, das Ballett nicht weiterverfolgt zu haben. Stattdessen steckte sie all ihre Energie in mich und meine Karriere, wofür ich ihr wahnsinnig dankbar war. Der zusätzliche Druck, den sie mir machte, war jedoch nicht immer leicht zu ertragen.

Es dauerte keine fünf Minuten, bis Mamans Antwort eintrudelte.

Maman: Du verlierst noch immer ständig die Spannung, vor allem in deinen Armen. Nach zwei Jahren am Konservatorium solltest du langsam anfangen, daran zu arbeiten.

Mein Herz setzte einen Schlag aus, nur um dann schmerzhaft weiterzuschlagen. Sie war nicht zufrieden mit mir. Wie immer. Dabei gab ich mein Bestes, um vorwärtszukommen, aber es war nicht genug.

Amélie: Ich arbeite daran, versprochen.

Spannung in den Armen. Ich machte mir eine innere Notiz, dass ich in nächster Zeit besonders viel Fokus darauf legen würde, um Maman stolz zu machen.

Gerade, als ich mein Handy beiseitelegen wollte, leuchtete eine neue Nachricht von ihr auf.

Maman: Ich habe uns für heute Abend einen Tisch im Maison Colène reserviert. Ich komme mit dem Zug in die Stadt. Holst du mich in dreißig Minuten am Bahnhof ab?

Zwei Nachrichten meiner Mutter und beide sorgten für kurze Aussetzer meines Herzens. Sie kam heute spontan in die Stadt, um mit mir essen zu gehen? Das konnte nur eins bedeuten: Entweder wollte sie mir irgendeinen Erfolg der Firma verkünden oder es ging um mich und meine Karriere. Auf beides würde ich gern verzichten.

Während meine Finger über die Tastatur flogen und Maman versicherten, dass ich sie abholen würde, wurden meine Hände so schwitzig, dass ich sie danach an meinem Handtuch abwischen musste, in das meine Haare bis vor wenigen Minuten noch eingewickelt gewesen waren.

Plötzlich wieder voller Energie sprang ich vom Bett auf und begann, meine Haare fertig zu föhnen, bevor ich in eine cremefarbene Bluse der Marke Durand schlüpfte und eine dunkelblaue Jeans dazu anzog. Maman würde bereits in dreißig Minuten am Bahnhof ankommen und ich brauchte in jedem Fall fünfzehn bis dorthin. Und da sie es hasste, zu warten, legte ich in Rekordgeschwindigkeit ein bisschen Make-up und Puder auf, tuschte meine Wimpern und verließ dann das Wohnheimzimmer, noch bevor Valérie mit dem Duschen fertig war.

Kapitel 2

Meine Augen suchten die Anzeigetafeln am Bahnhof hektisch nach der Nummer des Gleises ab, auf dem meine Mutter in diesem Augenblick ankommen sollte.

Der Lärm der bremsenden Waggons übertönte die blecherne Ansage, die gerade aus den Lautsprechern ertönte. Daneben drängten sich unzählige Stimmen der vielen Menschen in mein Ohr, die durch die große Halle hetzten.

Als ich endlich den richtigen Zug auf der Anzeigetafel fand, stellte ich fest, dass er Verspätung hatte. Ich atmete tief durch und versuchte, mein rasendes Herz unter Kontrolle zu bekommen. Es war alles gut, der Zug hatte zehn Minuten Verspätung, somit war ich mehr als pünktlich.

Während ich zum richtigen Gleis lief, fiel mir eine kleine Boulangerie am Rand der Bahnhofshalle ins Auge, vor der eine Schlange Reisender anstand, um sich einen Proviant für die Fahrt zu besorgen. Da ich noch einige Minuten übrighatte, beschloss ich, dort noch einen Kaffee für Maman zu kaufen, da ihre Laune sehr stark von ihrem Koffeinpegel abhing. Die Schlange wurde zum Glück schnell kürzer, sodass ich keine drei Minuten später den heißen Pappbecher in der Hand hielt.

Auf dem Weg die Treppe nach oben zum richtigen Gleis holte ich den kleinen Taschenspiegel heraus, den ich mir noch schnell eingesteckt hatte, und kontrollierte ein letztes Mal mein Aussehen. Das Make-up sah in Ordnung aus und meine langen blonden Haare fielen mir glatt über die Schultern. Das Einzige, das mir nicht gefiel, waren meine Augen. Sie starrten mich leblos in ihrem blassen Blau durch die tiefschwarz geschminkten Wimpern an.

Mit schnellen Schritten stieg ich die letzten Stufen hinauf und klappte den Spiegel gerade wieder zu, als sich auf einmal etwas Heißes über meine Bluse ergoss.

»Was zum …?«, fluchte ich und warf die Arme zur Seite.

»Mist, das wollte ich nicht. Sorry.« Mein Blick fiel auf den Typen, der mit zerzausten Haaren und Backpacking-Rucksack vor mir stand. Er war so groß, dass ich trotz meiner überdurchschnittlichen Größe den Kopf etwas in den Nacken legen musste, um ihm ins Gesicht zu sehen. Sein Blick glitt von meinem Oberkörper hinauf zu meinen Augen und blieb daran hängen. Er hatte seine Lider vor Schock weit aufgerissen. Als ich den Kopf senkte, fiel mir der Coffee-to-go-Becher auf, den er in seinen Händen hielt, dessen Inhalt allem Anschein nach aber unversehrt war. Wie viel Pech konnte ich haben? Es reichte nicht, dass der Stoff meiner Bluse unangenehm an meiner Haut klebte, nein, es musste auch der Kaffee für meine Mutter sein, der nun mein Oberteil zierte.

»Scheiße, kannst du nicht aufpassen?«, blaffte ich ihn vollkommen überfordert von der Situation an und betrachtete die Sauerei. Normalerweise redete ich nicht in solch einem Ton und schon gar nicht mit Fremden, aber die aufkeimende Panik wegen des ruinierten Oberteils sorgte dafür, dass die Worte nur so herauspurzelten. »Das gibt’s doch nicht.«

»Das war doch keine Absicht«, verteidigte er sich und wandte sich dann mit einem Schulterzucken an mich. »Du bist da auf einmal so aufgetaucht und hast ja auch nicht geschaut, wo du hingehst.«

Schnell zückte ich eine Packung Taschentücher und versuchte, den Kaffeefleck wegzuwischen. Als ich jedoch bemerkte, dass ich ihn nur noch mehr in die Fasern des teuren Stoffes rieb, gab ich es auf.

»Verdammt«, murrte ich und warf das Knäuel in den nächsten Mülleimer.

Menschen drängten sich an uns vorbei, um rechtzeitig ihre Züge zu erreichen, und ich fragte mich, ob ich mich nicht einfach umdrehen und die Flucht ergreifen sollte. Das Treffen mit Maman würde ohnehin schon nicht einfach werden, warum also verpasste mir das Schicksal einen Schlag nach dem nächsten? Schlampiges Aussehen konnte Maman sogar fast noch weniger leiden als Unpünktlichkeit. Ehe ich mir weiterhin Gedanken über die Ungerechtigkeiten des Universums machen und mir einen Fluchtplan zurechtlegen konnte, wandte ich mich ab, um zu gehen.

»Hey, warte mal!«, rief mir der Backpacker hinterher.

Abrupt blieb ich stehen und ballte die Hände zu Fäusten. »Was willst du? Mir den anderen Kaffee auch noch überschütten?« Mein Mund plapperte, ohne Halt zu machen. Obwohl Maman noch nicht einmal angekommen war, nagte diese schreckliche Nervosität an mir. Ihretwegen konnte ich keinen klaren Gedanken fassen.

Er zog die Augenbrauen zusammen, wobei sich seine Stirn leicht runzelte. »Nein, ich …«, er streckte mir seinen Kaffeebecher entgegen. »Hier. Nimm doch den. Hab auch nicht reingespuckt.« Ein schiefes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Skeptisch kniff ich die Augen zusammen und betrachtete ihn genauer. Was ging in seinem Kopf vor? Warum war er nett, obwohl ich ihn derart angefahren hatte?

Dem Aussehen nach zu urteilen, konnte er nicht viel älter als ich sein. Vielleicht ein, zwei Jahre. Dennoch wirkte irgendetwas an ihm reifer, nur konnte ich nicht genau sagen, was es war. Vielleicht die kleinen Falten, die sich neben seinen Augen bildeten, wenn er so frech grinste, obwohl er meine Bluse zerstört hatte. Oder die Cargohose, die er trug, passend zu dem Rest seines Backpackeroutfits.

Der Fremde zog die Augenbrauen abwartend nach oben. »Willst du ihn jetzt, oder nicht?«

»Du gibst mir freiwillig deinen Kaffee?«, hakte ich misstrauisch nach und spitzte die Lippen. Das Angebot klang verlockend. Ich hatte keine Zeit mehr, einen Neuen für meine Mutter zu besorgen, aber es wäre ein guter Anfang für diesen Abend. Oder zumindest würde es positiv von dem Fleck auf meiner Bluse ablenken.

Er wiegte den Kopf hin und her. »Um ehrlich zu sein ist es nicht meiner, sondern der meines besten Freundes. Aber der hat vorhin im Zug so einen ekligen Chiliburger bestellt und musste jetzt … ganz dringend wohin. Also befürchte ich, dass der Kaffee sowieso kalt ist, bis er ihn trinken kann.«

Ich runzelte die Stirn.

»Jetzt nimm schon, der ist nicht vergiftet oder so. Sonst wachsen dir die Falten auf der Stirn noch fest.«

Perplex von seiner Aussage riss ich die Augen auf und glättete meine Stirn. Ein paarmal klappte mir der Mund auf und zu, aber mir fiel kein Konter ein. Das Lächeln saß perfekt auf seinen Lippen und die Augen strahlten in einem dunklen Braunton. Schließlich presste ich nur ein leises »Danke« hervor und nahm ihm den Kaffeebecher ab. Dann wollte ich mich schon wieder an ihm vorbeischieben, als ich nochmal stehen blieb. »Ist da Zucker drin?«

Verwundert blickte er mich an. »Äh, nein. Ich glaub nicht.«

»Gut.« Denn das war noch eine Sache, die für meine Mutter der blanke Horror war: Zucker. Von klein auf hatte sie mir eingebläut, dass jegliche Art von ungesundem Essen – vor allem Süßigkeiten – für mich tabu waren, weil ich als Ballerina kein Gramm zu viel wiegen durfte.

Ich warf einen letzten Blick in sein Gesicht, das trotz der Verwunderung über meine Frage erheitert wirkte, und ließ ihn dann endgültig stehen.

Inzwischen war der Zug eingefahren und die Türen öffneten sich, was mein Herz zum Stolpern brachte. Meine Kehle war staubtrocken. War es normal, dass man so nervös war, wenn einen die eigene Mutter besuchte? Für mich war es jedenfalls immer so. Obwohl meine Eltern wie ich in Paris lebten, sah ich sie nur selten. Das Ballettstudium machte es mir nicht allzu oft möglich, nach Hause zu fahren. Und selbst wenn es doch so wäre, würde es ihnen überhaupt nicht auffallen, weil sie viel zu sehr mit ihrem Unternehmen beschäftigt waren. Schon immer hatte ich um jeden Funken Aufmerksamkeit kämpfen müssen. Inzwischen war ich es leid.

Ich entdeckte meine Mutter sofort, als sie aus dem Waggon stieg. Mit ihrem senfgelben Bleistiftrock, der weißen Bluse mit großer Schleife am Hals, den farblich dazu passenden Pumps und der übergroßen Sonnenbrille war sie nicht zu verkennen. Auch ihre blonden Haare saßen so perfekt wie immer.

Wie jedes Mal, wenn ich sie nach längerer Zeit wiedersah, breitete sich ein Kloß in meinem Hals aus.

Mit einem Mal schluckte ich all meine Gefühle hinunter und sperrte sie ganz weit weg. Irgendwie musste ich mich gegen das wappnen, was sicherlich wieder auf mich einstürzen würde. Mamans Meinung. Ihre Kritik. Ihr Urteil …

Tief einatmend ging ich auf sie zu. Doch bevor ich sie begrüßen konnte, nörgelte sie bereits los. »Dein Vater wird heute Abend was zu hören bekommen. Da brauche ich einmal den Fahrer und er plant ein Meeting außerhalb der Stadt. Zwingt mich dazu, den Zug zu nehmen.«

»Salut, Maman.«

Sie blieb stehen und nahm die Sonnenbrille ab, um mich von oben bis unten zu mustern. »Wie siehst du denn aus?«, wollte sie wissen und deutete mit ihrem perfekt manikürten Finger auf meine ruinierte Bluse.

»Tut mir leid … mir wurde Kaffee drübergeschüttet.« Schnell reichte ich ihr den Pappbecher, den ich immer noch in der einen Hand hielt – nicht nur, um ihr die Details zu ersparen, sondern weil ich die Missbilligung bereits in ihren verengten Augen aufblitzen sah.

»Wenigstens eine denkt an mein Wohlergehen.« Sie stöhnte erleichtert und nahm einen großen Schluck. »Aber so kannst du nicht ins Restaurant. Wir müssen vorher ohnehin noch ins Konservatorium, weil ich noch einige Angelegenheiten mit Madame Roux zu besprechen habe. Währenddessen kannst du dich umziehen.«

Ich runzelte die Stirn. »Welche denn?«

Sie warf mir einen kurzen Blick zu. »Die Marke Durand hat eine beträchtliche Spende für das Konservatorium geleistet.«

Eine … was? Ich glaubte, mich verhört zu haben. War das ihr Ernst? War sie nur deshalb hergekommen?

Sofort fing meine innere Stimme an, mich auszulachen und zu verhöhnen. Sie war nicht meinetwegen hier, um mich zu sehen und Zeit mit mir zu verbringen. Nein, sie war gekommen, um etwas für das Unternehmen zu erledigen. Ich hätte es besser wissen müssen.

Es machte mich sauer, aber natürlich sprach ich keinen meiner Gedanken aus. Stattdessen nickte ich nur. »Okay.«

Kapitel 3

»Wo warst du denn so plötzlich?«, begrüßte mich Valérie, die mit ihrem Handy in der Hand auf dem Bett lag, als ich das Zimmer betrat.

»Hab meine Mutter vom Bahnhof abgeholt«, murmelte ich und zog eine frische Bluse aus dem Kleiderschrank. Es war ebenfalls ein Designerstück der Modemarke meiner Familie, weswegen der Name Durand in geschwungener Schrift auf dem Etikett stand. Ich trug diese Sachen, um ab und zu das Gefühl zu haben, tatsächlich in diese Familie zu gehören. Oder zumindest optisch hineinzupassen.

»Du klingst nicht begeistert«, stellte meine Mitbewohnerin fest. Ich hörte hinter mir, dass sie sich aufsetzte und das Handy auf dem hölzernen Nachttisch ablegte.

Die Türen des Schrankes quietschten, als ich sie schloss.

Als Valérie klar wurde, dass ich nichts erwidern würde, fuhr sie fort: »Und jetzt geht ihr essen?«

»Jep«, antwortete ich knapp und bürstete mir noch einmal durch die Haare, die vom Wind zerzaust waren.

Valérie stand auf. »Na dann viel Spaß. Ich gehe jetzt noch eine Runde laufen vorm Abendessen.«

»Jetzt noch?« Ruckartig drehte ich mich zu ihr um. Ich spürte, wie sich etwas in mir zusammenzog. Valérie war diszipliniert. Ehrgeizig. So, wie ich es sein sollte.

»Klar. Von nichts kommt nichts.« Sie schnappte sich ihre Kopfhörer. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie bereits Laufkleidung anhatte. Ein ungutes Gefühl breitete sich in meiner Brust aus. Während ich mir in einem noblen Restaurant den Magen vollschlug, würde sie an ihrer Ausdauer arbeiten. Sollte ich nicht lieber dasselbe tun? Ein Blick in den Spiegel genügte, um mir die Unzufriedenheit mit meinem Körper wieder vor Augen zu führen. Ich sollte definitiv lieber Sport machen. Nur konnte ich das Essen nicht einfach ausfallen lassen und mich stattdessen dem Training hingeben.

»Na dann. Wir sehen uns später«, verabschiedete sie sich und winkte mir noch kurz zu. Dann war sie auch schon aus unserem Zimmer verschwunden und ich wechselte meine Bluse.

»Da bist du ja endlich.« Meine Mutter verdrehte die Augen.

»Wir hatten doch eine halbe Stunde vereinbart, oder?« Es waren gerade einmal fünfzehn Minuten vergangen. Nach dem Umziehen hatte ich mich noch ein paar Minuten ausgeruht und meine Gedanken sortiert, um den Abend heute gut zu überstehen.

»Ich war doch schneller fertig. Jetzt komm. Ich habe einen Tisch für sieben Uhr reserviert.«

Ich folgte meiner Mutter nach draußen, wo uns die warme Abendluft empfing. Es war Juni und deswegen auch noch um diese Uhrzeit taghell. Das Restaurant lag nur wenige Gehminuten vom Konservatorium entfernt. Wir liefen durch den angrenzenden Parc de la Villette und überquerten den Canal de l’Ourcq. Der Park war der größte in Paris und deshalb auch immer gut besucht. Viele Familien saßen an den Spielplätzen, wo sich die Kinder vor dem Schlafengehen noch austoben konnten. Auf dem Rasen wiederum sah man viele junge Menschen sitzen, die miteinander lachten und den schönen Sommerabend genossen.

Keine fünf Minuten später kamen wir bei dem Restaurant an, wo uns ein Mann im Smoking zunickte und die Tür öffnete.

Drinnen ertönte leise Klaviermusik, was die noble Atmosphäre unterstrich, genauso wie das viele Besteck und die hohen Kerzen auf den Tischen. Zu oft war ich schon in diesen schicken Restaurants gewesen, in denen man viel zu viel Geld für einen Salat bezahlte. Und immer noch konnte ich mich nicht damit anfreunden.

»Wir haben einen Tisch auf den Namen Durand reserviert«, teilte Maman dem Kellner mit, der uns in Empfang nahm. Er nickte leicht und deutete hinter sich. »Gleich hier hinten, Madame Durand.« Er führte uns an einen freien Tisch, an dem ich mich meiner Mutter gegenübersetzte.

»Darf ich Ihnen schon etwas zu trinken servieren?«

»Ich nehme ein Glas Ihres prestigeträchtigsten Weines und für meine Tochter ein Wasser, bitte.« Weil Wein zu viele Kalorien hat, hörte ich Mamans Stimme in meinem Kopf.

»Das Essen hier ist großartig. Dein Vater und ich waren letztens erst hier.«

Mein Kopf schnellte von der Karte hoch. »Ihr wart hier? Warum habt ihr nicht Bescheid gegeben, dass ihr in der Nähe seid?« Obwohl es mir jedes Mal vor den Treffen mit meinen Eltern graute, versetzte es mir einen Stich, dass sie mich nicht einmal gefragt hatten, ob wir uns sehen wollten. Schließlich waren sie immer noch meine Eltern, und alles, was ich tat, tat ich für sie. Weil ich sie stolz machen wollte. Weil ich …

»Wir waren nur für ein Geschäftsmeeting mit einem neuen Vertriebspartner in der Stadt und haben danach eine Kleinigkeit gegessen, bevor wir ins Büro mussten. Da war keine Zeit, Amélie.«

Als der Kellner zurückkam, krampfe sich mein Magen zusammen. Beim besten Willen konnte ich mir nicht vorstellen, gleich etwas zu essen. Ich sollte doch eigentlich wie Valérie Kalorien verbrennen und nicht welche zu mir nehmen.

Meine Mutter bestellte einen Fenchel-Gurkensalat mit Lachs und Datteln.

»Und was darf ich Ihnen servieren, junge Dame?«, fragte mich der Mann mit Schnauzer und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Mamans Blick lag auf mir, als mir Hitze durch den Körper schoss. Schnell klappte ich die Karte zu und stieß dabei gegen Mamans Weinglas.

»Pass auf.« Sie reagierte so schnell, dass sie es gerade noch zu fassen bekam. Dennoch kassierte ich einen strengen Blick.

»Tut mir leid«, murmelte ich und reichte dem Kellner die Karte. Ich spürte, wie mir Röte in die Wangen stieg. »Einen gemischten Salat, bitte.« Der Kellner nickte und verschwand dann in die Küche. Angespannt warf ich einen Blick zu ihr, aber da sie meine Bestellung nicht kritisierte, sondern gleich mit einem anderen Thema fortfuhr, ging ich davon aus, dass sie zufrieden damit war.

»Amélie, ich musste vorhin von Madame Roux erfahren, dass du beim Nussknacker für die Jahresaufführung in die zweite Reihe gestellt wurdest.« Sie nippte an ihrem Wein und mein Körper spannte sich unweigerlich an. Da war es. Das Thema, auf das ich schon die ganze Zeit gewartet hatte. Denn das war das Einzige, das für meine Eltern zählte. Fortschritte. Ergebnisse. Erfolg. Ich wusste genau, warum ich es ihr nicht erzählt hatte. Laut Monsieur Fournier befand ich mich im oberen Drittel der Klasse, aber auch das reichte nicht, denn meine Eltern wollten, dass ich für die Aufnahme in den Chor des Pariser Opernballetts vortanzte. Die Pariser Oper war eine der besten Ballettkompanien der Welt und dementsprechend heißbegehrt unter den Studierenden. Allerdings wurden jährlich nur wenige neue Tänzer aufgenommen, was den Konkurrenzkampf nur noch größer machte. Deshalb war die Chance, überhaupt für ein Vortanzen ausgewählt zu werden, verschwindend gering. Und damit auch die Chance auf ein besseres Verhältnis zu meinen Eltern.

»Ich …«, begann ich, wusste aber nicht so genau, was ich sagen sollte. Was erwartete sie denn? »Das stimmt. Ich komme nicht so ganz mit Madame Roux’ Unterricht klar. Aber Monsieur Fournier meinte letztens, dass ich mich in seiner Choreo gesteigert hätte.«

Sie schwenkte den Wein in ihrem Glas hin und her. »Und sonst?« In ihrem Ton schwang ein Hauch Hoffnung mit. Sie klammerte sich daran wie eine Ertrinkende an einen Rettungsring. Doch ich war wie die Flut, die ihre Hoffnung mit einem einzigen weiteren Satz fortspülen würde. »War’s das schon mit Fortschritten?« Ich entschied mich dafür, zu schweigen, und zuckte bloß mit den Schultern, während mir das Herz schmerzhaft gegen meine Rippen schlug.

»Amélie, wir bezahlen diese Ausbildung nicht, damit du faulenzen kannst. Du musst trainieren, um besser zu werden.«

Der vorwurfsvolle Ton meiner Mutter ließ mich die Zähne zusammenbeißen. »Ich weiß. Ich trainiere doch.«

»Offensichtlich nicht genug. Sonst wärst du im letzten halben Jahr besser geworden.«

»Aber ich bin doch besser geworden«, verteidigte ich mich und fing mir dafür gleich einen tadelnden Blick meiner Mutter ein.

»Hör auf, mir ständig zu widersprechen. An dem Video, das du mir heute geschickt hast, habe ich gesehen, dass deine Arme noch immer so schwabbelig sind wie vor ein paar Monaten«, zischte sie und strich sich dann eine mit Haarspray verklebte Strähne aus dem Gesicht.

Ihre Worte waren wie Messerstiche in meine Brust. Ich hatte ihr das Video geschickt, um sie stolz zu machen. Wieder einmal hatte ich das nicht geschafft.

Stille breitete sich für einen Moment zwischen uns aus. Nur die sanften Töne des Klaviers und leises Stimmengemurmel der anderen Gäste waren zu hören.

Ein paar Minuten später brachte der Kellner die Gerichte. Maman fing sofort mit dem Essen an, während ich in meinem Salat herumstocherte, als hätte er es nicht verdient, gegessen zu werden. Nur dass es eher andersherum war. Wenn dann hatte ich es nicht verdient, ihn zu essen. Und so etwas wie Appetit hatte ich sowieso schon lange nicht mehr verspürt. Essen war für mich etwas Notwendiges. Aber nichts, über das ich mich freute oder das ich genießen konnte. Vor allem seitdem ich am Konservatorium studierte, kontrollierte ich ganz genau, was ich zu mir nahm, um dünn genug zu bleiben. Denn das war die Mindestvoraussetzung, um überhaupt eine Chance in der professionellen Ballettbranche zu haben.

»Wie läuft es mit deinem Audition-Video?«, fragte meine Mutter, als ihr Teller leer war.

»Gut. Ich … bin so gut wie fertig damit.« Das war gelogen, aber ich verkraftete keine weitere Standpauke.

Meine Mutter tupfte sich den Mund mit der Stoffserviette ab und nickte. »Immerhin etwas.«

Ich legte die Gabel beiseite und schob den Teller von mir. »Schmeckt es dir nicht?«, wollte meine Mutter wissen.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein … also doch, aber ich habe keinen Hunger.«

Sie erwiderte nichts darauf und ich fragte mich ernsthaft, was ich von dem Abend erwartet hatte. Dass sich meine Mutter in den letzten drei Monaten, in denen wir uns nicht gesehen hatten, um 180 Grad gedreht hatte und mich auf einmal für das, was ich tat, lobte? Ich schnaubte innerlich. Eine absurdere Hoffnung gab es nicht. Es war nie genug, was ich tat. Ich war nicht das Vorzeigekind so wie mein Bruder Alexandre.

»Ich muss jetzt langsam los, die neue Kollektion wird morgen besprochen, das wird ein langer Tag«, riss mich meine Mutter schließlich aus den Gedanken und bedeutete dem Kellner, dass sie zahlen wollte.

»Wie geht es Papa?«, fragte ich, weil ich auch ihn seit Monaten nicht mehr gesehen hatte. Und das, obwohl ich zu meinem Vater eigentlich ein besseres Verhältnis hatte als zu meiner Mutter. Wenigstens machte er mir nicht ständig Vorwürfe. Er war einfach nie da.

»Gut«, antwortete sie knapp, womit das Thema auch schon wieder abgehakt war. Nach meinem Bruder brauchte ich gar nicht fragen. Bei ihm sah ich auf seinem Social-Media-Kanal oft genug, wie prächtig es ihm erging. Er reiste von Zeit zu Zeit durch die Welt und vertrat die Firma auf jedem Kontinent, weswegen ich ihn noch seltener als meine Eltern zu Gesicht bekam.

Maman bezahlte und dann machten wir uns auf den Weg nach draußen, wo ihr Chauffeur bereits wartete.

»Mach’s gut, Amélie«, sagte sie zur Verabschiedung und ich wusste genau, wie sie das meinte. Nämlich wortwörtlich. Ich sollte mich gut machen im Studium.

»Wann sehen wir uns wieder?«, fragte ich, bevor sie in den Wagen stieg. »Wir könnten als Familie mal wieder etwas unternehmen«, schlug ich mit klopfendem Herzen vor.

»Natürlich«, gab sie zurück und ich traute meinen Ohren kaum. Aber was dann kam, machte diesen winzigen Hoffnungsschimmer auch schon wieder zunichte. »Wir geben bald eine kleine Soirée bei uns zu Hause. Da solltest du auch kommen.«

Ich ließ die Schultern hängen. War das ihr Ernst? Das verstand meine Mutter unter einem Familienausflug? Eine Soirée, bei der alle schicke Cocktailkleider trugen und mit einem aufgesetzten Lächeln miteinander plauderten?

Ich ballte meine Hände so fest zu Fäusten, dass sich meine Fingernägel schmerzhaft in die Handflächen bohrten.

»Bis bald, Maman«, sagte ich nur, atmete tief durch und machte dann auf dem Absatz kehrt.

Zurück im Konservatorium stieß ich die Tür zu meinem Zimmer auf und das Erste, was ich entdeckte, war Valérie, die am Boden saß und sich dehnte.

»Hey«, sagte sie und wechselte die Seite ihres Spagats. Sie musste wohl gerade erst vom Training zurückgekommen sein, was ich aus ihren Sportklamotten schloss, die sie noch trug. Sie war eine der Besten in unserem Jahrgang und ehrgeiziger als jeder andere hier, was ich in solchen Momenten immer wieder bemerkte.

Entnervt schlug ich die Tür hinter mir zu und warf meine Ballerinas in die Ecke neben dem Bett.

»Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«

»Es ist nichts«, brummte ich.

Valérie wusste einiges über mich, das Verhältnis zu meiner Familie und meine Probleme beim Tanzen. Aber sie hatte keine Ahnung, wie es in meinem Inneren aussah. Sie wusste nichts von den Dämonen, die mich regelmäßig heimsuchten und mich mit sich in den Abgrund rissen. Es mochte sein, dass es mir vielleicht helfen würde, wenn ich jemandem von meinen Problemen und Gedanken erzählen würde. Jedoch erschien es mir unmöglich, mich vollständig zu öffnen. Schon gar nicht ihr. Alles, was sie zu sehen bekommen würde, wäre Schwäche. Schwäche, die mich angreifbarer machen würde.

Valérie verdrehte ihre Augen und warf die umwerfend schönen braunen Locken nach hinten. Ihre Haut war dunkler als meine, weil sie ursprünglich aus Mauritius kam. Sie war vorletztes Jahr ohne ihre Eltern hierhergezogen, um Karriere als professionelle Tänzerin zu machen. »Ich sehe doch, dass irgendwas ist. Rück schon raus mit der Sprache.«

Ich griff nach der Bürste, die auf dem Schreibtisch lag, und fuhr mir damit durch die vom Wind zerzausten Haare. »Ich will nicht darüber reden.«

Daraufhin zuckte meine Mitbewohnerin mit den Schultern und beendete ihre abendliche Dehneinheit. Eigentlich sollte ich mich jetzt dazusetzen und genau dasselbe tun. Aber ich brachte es nicht über mich. Mein Körper fühlte sich zu ausgelaugt an, um auch nur noch einen Schritt mehr als bis zu meinem Bett zu tätigen.

Ich band mir schnell die Haare zu einem hohen Zopf, zog mich hinter der geschlossenen Badezimmertür um, putzte mir die Zähne und schlüpfte unter meine Bettdecke.


 


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