Leseprobe zu Written in Sand
- Lisa und Anna
- 24. Juni
- 14 Min. Lesezeit

All love is lost - Leya
Sorry, Ley.
Das war alles, was von meinem großen Traum übrig war. Zwei Worte in einer letzten Textnachricht. Zwei Worte, die mir alles genommen hatten, wofür ich gearbeitet hatte.
Wie Säure fraß sich jeder Buchstabe durch mich hindurch. Ließ die Spitze meines Stiftes verharren. Jedes Wort, das ich hätte zu Papier bringen können, starb, bevor ich es greifen konnte. Seit Wochen hatte ich keinen Vers geschrieben, keine Liedzeile verfasst. Weißes Rauschen füllte meine Ohren. Betäubte jedes Gefühl und ließ meine Welt in tonlosen Graustufen ertrinken.
Mein Handy verkündete den Eingang einer Textnachricht.
Ich hatte keine Lust nachzusehen.
Noch eine Nachricht.
Missmutig hob ich den Blick von der unberührten Seite meines Notizbuches, die mich mit ihrem Strahlen zu verhöhnen schien.
Noch eine Nachricht.
Stöhnend schob ich den Stuhl zurück und dehnte meine verspannten Muskeln. Diffuses Licht drang durch den schmalen Spalt zwischen meinen Vorhängen, die ich seit Wochen nicht geöffnet hatte. Der herrliche Frühsommer mit seinen ausgiebigen Sonnenstunden und den unzähligen Schattierungen von frischem Grün schien sich besonders viel Mühe zu geben, mir zu zeigen, wie grau meine Welt war.
Noch eine Nachricht.
Ich öffnete den Chat mit meinem besten Freund ohne darauf zu achten. Es gab ohnehin niemand anderen mit dem ich zur Zeit redete.
Hey Lil. Was machst du?
Lil?
Lass das sofort sein.
Du hast es nicht anders gewollt.
Ich schaffte es gerade so, das letzte Wort zu lesen, da klingelte das Telefon. Ich nahm den Anruf entgegen, ohne zu zögern. Er würde ohnehin nicht aufgeben.
»Vergiss das Arschloch. Du bist großartig und du bist zu so viel mehr bestimmt, als er jemals sein wird. Aber ich bin trotzdem sauer, weil du mich ignoriert hast.«
»Ich wollte gerade antworten. Und du kannst überhaupt nicht wissen, warum ich so lange gebraucht habe.«
Zay lachte. »Wie lange kenne ich dich jetzt? Vierzig Jahre?«
»Du bist erst dreiundzwanzig.« Ein Schmunzeln zupfte an meinem Mundwinkel. Eines der vielen Talente, die mein bester Freund besaß, war es, mich immer aufzumuntern.
»Und trotzdem kenne ich dich so gut, dass es mir vorkommt wie vierzig. Lass mich raten: Du sitzt trübsinnig in deinem völlig dunklen Zimmer, obwohl es laut Wetterbericht gerade herrliche fünfundzwanzig Grad und strahlenden Sonnenschein bei dir sind.«
Ich brummte etwas, was Zustimmung und Verneinung gleichermaßen sein könnte.
Zays Stimme wurde sanfter. Der typisch neckende Tonfall wich und ich konnte förmlich sehen, wie Sorge seine meergrünen Augen verdunkelte. »Was brauchst du?«
Ich lachte bitter. »Ein neues Leben.«
Für einen Moment war es still am anderen Ende der Leitung. So still, dass ich nicht sicher war, ob das Rauschen in meinen Ohren von meinem eigenen Blut kam oder vom Ozean, den mein bester Freund sicher gerade betrachtete. »Okay.«
»Okay?«
»Du willst ein neues Leben. Du bekommst eines. Komm zu mir.«
»Was? Das geht …«
»Stopp«, unterbrach er mich. »Du willst einen Neuanfang, oder? Und hier kannst du einen haben.«
Das Handy vibrierte. Irritiert nahm ich es vom Ohr und sah eine Nachricht von Zay. Er hatte mir ein Foto seiner Aussicht geschickt. Offenbar stand er auf seinem kleinen Balkon. Der Ozean war eine strahlende Fläche in Blauschattierungen. Kaum eine Welle kräuselte seine Oberfläche. Eine Handvoll Menschen genoss das milde Wetter bei einem Spaziergang.
Noch ein Foto kam an. Diesmal vom Schlafsofa meines besten Freundes.
Das nächste zeigte das Innere seines Kühlschrankes. Er war randvoll. Eigentlich viel zu voll für einen Ein-Personen-Haushalt.
Ich stellte den Lautsprecher an. »Denkst du wirklich, ein voller Kühlschrank lockt mich zu dir?«
»Mmhhh.« Er zog den Laut in die Länge, als müsse er angestrengt über meine Worte nachdenken. »Nein, aber das hier vielleicht.« Das Grinsen in seiner Stimme war nicht zu überhören und dann kam ein weiteres Bild.
Es zeigte meinen Kindheitsfreund, der sein typisches Zay-Lächeln im Gesicht hatte. Eine Mischung aus Schmunzeln und Grinsen. Seit er an die Nordsee gezogen war, kamen immer mehr Sommersprossen auf seinem Gesicht zum Vorschein. Er hatte einen Arm ausgebreitet, wie er es früher immer getan hatte, um mich in eine Umarmung zu ziehen.
Ich hatte ihn ewig nicht gesehen. Wir waren beide so damit beschäftigt gewesen, unsere Wege zu festigen, und diese hatten uns in verschiedene Richtungen geführt. Oder in Zays Fall in zig Richtungen in kürzester Zeit. Erst jetzt fiel mir auf, wie sehr ich seine Umarmungen vermisste. Wie sehr es mir fehlte, meinen Kopf an seine Schulter zu lehnen.
Eine Träne löste sich aus meinem Augenwinkel. Nutzte meinen Moment der Unachtsamkeit und stahl sich an meinem Schutzwall vorbei. Keine hatte es geschafft, seit mein Leben in Grau zerbrochen war. Ich hatte sie aufgehalten und niemandem gezeigt, wie zerbrochen ich im Inneren war. Doch nun stand ich hier. In meinem dunklen Zimmer und salzige Bäche strömten Wasserfällen gleich meine Wangen hinab. Ein Schluchzen schüttelte meinen Körper.
»Lil …« Zays Stimme schien so unendlich weit entfernt zu sein. Als könnte ich plötzlich jeden Kilometer hören, der uns voneinander trennte. »Du kommst hierher. Pack deine Sachen und schwing deinen süßen Hintern in Dolly, verstanden?« Seine Worte ließen keinen Zweifel daran, dass er mich zur Not holen kommen würde und dennoch klang seine Stimme wie ein zarter Windhauch.
Und während die Stücke meines Herzens, die ich so sorgsam zusammengehalten hatte, mir eines nach dem anderen entglitten und das Ausmaß der Zerstörung offenbarten, flüsterte ich: »Okay.«
***
Die zweite Reisetasche fand ihren Weg in Dolly, meinen alten VW-Bus. Benannt nach der einzig wahren Dolly Parton, einer herausragenden Songwriterin, deren Talent so viele Nummer-Eins-Hits erdacht hatte. Nummer-Eins-Hits, mit denen andere erfolgreich waren.
Ein trockenes Lachen löste sich aus meiner Kehle. Die Ironie dieser Namenswahl, ohne zu wissen, wie mein Leben verlaufen würde, fühlte sich an, als würde sich das gesamte Universum einen Scherz auf meine Kosten erlauben.
»Was ist so lustig, Schätzchen?« Meine Mutter kam hinter mir aus der Haustür und hielt mir meinen Gitarrenkoffer entgegen.
Ich zögerte. Nur einen Moment. Unschlüssig, ob ich das Instrument mitnehmen sollte. Immerhin schwiegen die Saiten im Einklang mit meinem leeren Notizbuch. Die Musik hatte mich mit ihm verlassen. Hatte ein Loch hinterlassen, das nichts anderes füllen konnte, und doch fand ich keine Melodie, keinen Takt, den meine Finger gedankenverloren trommelten, keine Note, die der Anfang einer ersten Zeile war.
Lediglich der skeptische Blick meiner Mutter brachte mich dazu, das Instrument neben die Reisetaschen zu stellen. Als hätte ich mich an dem alten abgegriffenen Leder des Koffergriffes verbrannt, zog ich die Finger zurück.
»Ich kann noch gar nicht glauben, dass du morgen schon so weit weg sein wirst.«
Ein Potpourri aus Gefühlen leuchtete in ihrem Gesicht. Ich wusste, dass meine Mutter sehr viel mehr in den letzten Wochen gesehen hatte, als ich offenbaren wollte. Und ich wusste, dass sie die Hoffnung hegte, die Zeit bei Zay könnte mir zurückgeben, was vielleicht für immer zerbrochen war. Doch das bedeutete nicht, dass der Gedanke, mich auf einer abgelegenen Insel vor der deutschen Küste zu wissen, sie nicht traurig machte.
Ich konnte selbst noch nicht fassen, dass ich das tat. Ich würde wirklich zu Zay ziehen. Am Meer wohnen.
Ich umarmte meine Mutter. Lockerte den Griff um meine eisernen Mauern ein wenig. Sie hatte keinen emotionslosen Abschied verdient, auch wenn der kurze Moment mich Kraft für mehrere Tage kostete. Die Gefühle in meiner Brust waren ein Monster, dem mit jedem Tag mehr Klauen und Zähne wuchsen, und wenn ich es nicht eingesperrt hielt, schlug es seine Krallen in mich und zerriss, was noch übrig war.
»Ich schreibe dir ganz oft, versprochen.«
Sie nickte und schluckte angestrengt. Wollte ebenso wie ich keine Tränen vergießen.
»Gib Papa nochmal einen Kuss von mir, ja?« Von ihm hatte ich mich bereits verabschiedet, bevor er zur Arbeit gefahren war.
»Natürlich. Und jetzt fahr. Du verpasst noch deine Fähre und musst irgendwo am Straßenrand schlafen.« Sie küsste mich auf die Wange und schob mich dann energisch Richtung Fahrertür.
Ich schmunzelte und verzichtete darauf, ihr zu sagen, dass die Fähren mehrmals täglich übersetzten, und ich selbst mit fünf Stunden Stau noch eine erwischen würde. Stattdessen drückte ich sie noch einmal, bevor ich einstieg und die Tür hinter mir ins Schloss fiel. Völlige Stille umfing mich im Inneren, die ich schnellstmöglich mit dem Dröhnen des Motors füllte.
Eine Stunde hielt ich durch, dann kaufte ich mir an einem Rasthof etwas zu trinken und wählte Zays Nummer. Es war später Vormittag, was bedeutete, dass die Chancen, dass er wach war, gutstanden und er die Bar erst in einigen Stunden öffnen musste, also hatte er Zeit. Hoffte ich zumindest. Er nahm beim zweiten Klingeln ab.
»Was ist passiert? Hattest du einen Unfall?«
»Nichts und nein.« Ich stieg wieder in Dolly ein, und noch während ich versuchte, die Freisprecheinrichtung einzustellen, kam ich mir kindisch vor. Alleine, den Grund für meinen Anruf auszusprechen, klang lächerlich.
»Bekommst du kalte Füße?« Ich hörte das Schmunzeln in seiner Stimme, während im Hintergrund das Brummen einer Kaffeemaschine einsetzte.
»Nein … Es ist … still.«
Einen Moment hörte ich nur das monotone Geräusch auf der anderen Seite, dann murmelte Zay: »Verstehe. Gib mir eine Minute.«
Ich fuhr los und hörte, wie mein Freund gedämpft mit jemandem sprach. Mein schlechtes Gewissen ihn mit Belanglosigkeiten zu belästigen wuchs.
»So, dein imaginärer Beifahrer steht zur Verfügung.«
»Tut mir leid. Ich wollte dich nicht stören, wenn ich gewusst hätte, dass du Besuch hast …«
Er lachte. »Entspann dich, Lil. Ich habe keinen Besuch. Hab nur Anweisungen erteilt.«
»Hast du jemanden angestellt?«
»Sowas in der Art. Er ist eher eine britische Version von Lumiere, wobei er manchmal leichte Tendenzen von Herrn von Unruh hat. Er ist quasi Inventar.«
»Okaaaay.« Ich zog das Wort in die Länge und war mir sicher, dass Zay meine gerunzelte Stirn aus den Silben heraushören konnte.
»Er war schon hier, als ich die Bar übernommen habe.«
»Das hast du noch nie erwähnt.«
»Stimmt.«
Eine Pause folgte. So kurz, dass sie ein langer Atemzug hätte sein können, doch ich kannte meinen Gesprächspartner so gut, dass mich der Moment der Stille stutzig machte.
»Ich sag ja, er ist wie ein Teil des Inventars. Da habe ich es wohl einfach vergessen.«
Zay war schon immer ein schlechter Lügner gewesen, aber diese Ausrede war sogar für ihn eine miserable Leistung. Dennoch ließ ich das Thema fallen. Er hatte sicher seine Gründe dafür, diese Person unerwähnt gelassen zu haben, sonst würde er mir nicht ausweichen.
»Verstehe. Also, imaginärer Beifahrer, da du aufgrund deiner Situation nicht in der Lage bist, Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst mit mir zu spielen, hoffe ich, du hast etwas Spannendes zu erzählen.«
»Lust auf ein akustisches Cocktail-Tasting?«
»Hast du neue?« Seit mein bester Freund weggezogen war, um in den besten Bars der Welt das Mixen zu lernen, hatten wir die Tradition, dass er mir seine neuen Rezepte vorlas und ich versuchte, die verschiedenen Aromen im Kopf zu einem Getränk zu verbinden.
»Klar. Die Meisterschaft ist bald und bei den Gewinnern des letzten Jahres muss ich mir echt was einfallen lassen, um eine Chance zu haben. Ich habe überlegt, nach Köln zu fahren und die drei Gewinner-Drinks zu probieren.«
»Klingt nach einer tollen Idee und die Meisterschaft gewinnst du mit links. Ich bin ganz Ohr.«
Die nächsten Stunden philosophierten wir über Zutaten, verschiedene Geschmacksnuancen und ausgefallene Kompositionen.
Zays Begeisterung und Leichtigkeit ließ mich meinen Schmerz zwar nicht vergessen, aber mit ihm fühlte es sich weniger schwer an, das Monster in Ketten zu halten.
Die letzte Stunde des Weges mit der Fähre und über die Insel würde ich allein schaffen müssen. Zay musste die Bar öffnen, und auch wenn er angeboten hatte, mich auf seinen In-Ears zu lassen, sodass ich dem Treiben lauschen konnte, hatte ich abgelehnt. Ich wollte nicht schuld daran sein, dass seine Gäste ihn für unaufmerksam hielten und womöglich nicht wiederkamen. Dennoch war ich dankbar gewesen, dass er noch solange Zeit gehabt hatte, bis Dolly und ich an Deck der kleinen Fähre gehalten hatten. Das Übersetzen von Land auf ein Schiff hatte meine Nervosität so sehr angefacht, dass ich ohne seine Stimme im Ohr vermutlich einfach von der Rampe gefahren wäre.
Die Insel tauchte bereits am Horizont auf und je größer sie wurde, desto mehr wurde mir bewusst, dass ich das hier wirklich tat. Ich, das Mädchen, das bereits mit zehn Jahren gewusst hatte, wohin es in ihrem Leben gehen wollte, hatte einfach ihre Sachen gepackt und würde bei ihrem besten Freund auf der Couch schlafen. Ohne Arbeitsplatz, ohne nennenswerte Ersparnisse, ohne Zukunft.
Panik raubte mir den Atem. Der Innenraum von Dolly schien mit einem Mal nicht mehr größer als ein Gitarrenkoffer. Ich stieg aus und stellte mich an die Reling der kleinen Fähre. Der salzige Atem des Ozeans füllte meine Lunge mit Sauerstoff und beruhigte meine Nerven. Die unbeschreibliche Mischung aus prickelnder Wärme und Meeresrauschen besänftigte mein wild schlagendes Herz.
Es war richtig. Dieser Ort fühlte sich bereits jetzt richtig an. Hier würde die Vergangenheit keine Sonnenaufgänge grau färben und keine Erinnerung könnte meine Gedanken in Finsternis ertränken.
Wir legten an und gemeinsam mit einer Handvoll anderer Autos fuhr ich vom Schiff. Zay hatte mir genau beschrieben, wo ich Dolly abstellen sollte. Es gab in der Nähe des JellyFish einen Parkplatz, den auch die vielen Surfenden für ihre Vans nutzten. Allerdings würde ich von dort aus einige hundert Meter zu Fuß gehen müssen.
Der Parkplatz war beinahe leer, als ich ankam. Die Surfsession hatte noch nicht begonnen und für viele der Strandgänger war es am späten Nachmittag bereits wieder zu kühl. Völlige Stille umfing mich. Wie erstarrt stand ich neben Dolly, nicht fähig, mich zu bewegen. Die Sonne war noch nicht untergegangen, und dennoch konnte ich bereits die Mondsichel hoch über mir erkennen und der Abendstern flankierte ihre Seite.
Mein Handy riss mich aus meinem Staunen. Eine Nachricht von Zay. Deine Stunde ist um. Schon da?
Ich schmunzelte. Die Stunde war gerade einmal seit einer Minute vergangen. Bin auf dem Parkplatz. Wo genau muss ich hin?
Warte dort.
Ich wollte ihm gerade schreiben, dass er sich unterstehen sollte, mich abzuholen und die Bar allein zu lassen, da erschien eine weitere Nachricht.
Das kannst du dir sparen. Bin fast da.
Wir wussten beide, dass das nicht stimmte. Selbst wenn er rennen würde, käme er nicht so schnell über die Dünen. Dennoch schickte ich ihm ein Herz zurück und lehnte mich an die Seitenwand von Dolly. Erneut zogen die beiden Himmelkörper meinen Blick auf sich. Hier würden bei Nacht sicher unzählige Sterne leuchten, die in den stets erleuchteten Metropolen von künstlichem Licht übertüncht wurden.
Don’t let the fake ones take away your light.
Da war sie. Die erste Songzeile seit Wochen. Keine Melodie, nichts weiter. Doch es war eine Zeile. Ein Anfang nach Tagen voller Stille und Zweifeln. Mit zitternden Fingern zog ich meinen Rucksack vom Beifahrersitz und riss das Notizbuch heraus. Klappernde Geräusche kündeten davon, dass mehrere Dinge dabei zu Boden fielen. Es war mir egal. Ich setzte den Stift auf das Papier…
Sorry, Ley.
Meine Finger zitterten. Der Stift entglitt ihnen. Die Seite blieb leer. Eine Träne, geboren aus Verzweiflung, entkam meinem Augenwinkel, und als ich Schritte hinter mir hörte, wischte ich sie schnell weg. Versteckte das Notizbuch in meinem Rucksack und drehte mich um.
Die Haare meines besten Freundes waren etwas länger geworden, aber zerzaust wie immer. Sein schiefes Leya-Grinsen, das er nur für mich reserviert hatte, zierte seine Lippen, und noch bevor ich mit meiner Musterung fertig war, lag ich in seinen Armen.
»Hey, Lil.«
»Hey.«
Für eine gefühlte Ewigkeit standen wir so da und genossen die Nähe des anderen. Es war so unendlich lang her, dass ich beinahe vergessen hatte, wie es sich anfühlte. Zay war mein Rettungsboot. Und egal, wie weit die Wellen uns voneinander trennten, wenn ich hilflos auf offener See trieb, war er da. Immer.
»Willst du dein neues Zuhause sehen?« Obwohl er die Frage zum Aufbruch stellte, lockerte er seine Umarmung erst, als ich nickte.
Ohne meine Widerworte zu beachten, schnappte er sich meine beiden Reisetaschen. Den Gitarrenkoffer ließ er nach kurzem Zögern im Wagen. Und ich war ihm dankbar dafür.
Unser Weg führte über einen schmalen Pfad, der sich zwischen Gräsern und Gestrüpp eine Düne emporwand. Oben angekommen eröffnete sich ein atemberaubendes Panorama.
Der Ozean lag wie eine nachtfarbene Decke in sanften Wellen zu unseren Füßen. Die Sonne entzündete seine Oberfläche in orangerotem Feuer und der Sand schimmerte in zartem Cremeweiß. Ich konnte beinahe spüren, wie sich die feinen Körnchen unter meinen nackten Füßen anfühlen würden.
Mein Blick fand Zay, der mit einem wissenden Lächeln neben mir stand. »Ist auch nach mehreren Monaten hier noch so überwältigend, mit dieser Aussicht schlafen zu gehen und aufzuwachen.«
Ich nickte und gemeinsam folgten wie dem Pfad abwärts zu einer schmalen Holztreppe, die in einem niedrigen Gebäude mündete. Stimmen und Musik drangen zu uns und mehrere warmweiße Lichterketten spendeten gemütliches Licht. Ich erhaschte einen Blick auf die Bar und die voll besetzte Terrasse, bevor Zay mich am Ärmel schnappte und durch eine rustikale Tür aus dunklem Holz bugsierte. Stufen führten in das Obergeschoss und zu zwei Türen. Wir steuerten die linke an und standen beinahe sofort im Wohnzimmer meines besten Freundes.
Ich erkannte es von den vielen Fotos, die er mir gesendet hatte. Sanfte Cremetöne und Boho-Vibes empfingen uns und Zay stellte meine Taschen neben der Couch ab. »Ich muss wieder runter. Wenn etwas ist, ich habe mein Telefon dabei. Mach es dir gemütlich und ruh dich aus.« Er zog mich in eine kurze, aber feste Umarmung. »Schön, dass du hier bist, Lil.«
Ich lächelte. »Danke, dass du mich gezwungen hast.«
Lachend wandte er sich um und verließ die Wohnung. Schnell schlüpfte ich in bequeme Sachen und sank zwischen die kuscheligen Sofakissen. Der Gedanke, die Aussicht vom Balkon aus sehen zu wollen, verfing sich im beruhigenden Rauschen der Wellen und verklang in einnehmender Stille.
This morning talks – Nesh
Wenn die Sonne das Meer in ein Farbenspiel aus Orangetönen tauchte und die Stille des heraufziehenden Morgens nichts als Wellenrauschen an meine Ohren spülte, fühlte sich das Atmen frei an. Die Unruhe, die mich jede Nacht begleitete, seit ich vor zwei Jahren die Entscheidung traf, dass meine Vergangenheit nicht länger eine Rolle in meiner Gegenwart spielen sollte, verflüchtigte sich. Der Wind, dessen Salzgeruch beinahe berauschend meine Sinne flutete, nahm ihre Schwere mit sich. Verwehte sie über den flüsternden Wogen.
Ich zog das linke Knie an und lehnte den Kopf an die Holzverkleidung meines Schlafzimmers. Der lauwarme Luftstrom kroch unter den Saum meiner Pyjamahose, streichelte meinen nackten Oberkörper und ich schloss seufzend die Augen.
Dass ich dieses Schmuckstück gefunden hatte, grenzte an ein Wunder. Ebenso wie Zays Bereitschaft, mich weiterhin über der Strandbar The JellyFish wohnen zu lassen, als er diese vor zehn Monaten von Meira übernommen hatte. Ein Schmunzeln zupfte an meinen Mundwinkeln. Ich hatte nie zuvor Menschen wie Meira und Zay getroffen. Aufgeschlossen, empathisch und mit einer Energie, dass die Herausforderungen eines jeden Tages nicht groß genug sein konnten, um wirkliche Schwierigkeiten darstellen zu können, wirkten die beiden wie gleiche Seelen in unterschiedlich gealterten Körpern. Der dunkelblonde Barkeeper hatte sein zukünftiges Ich in der siebzigjährigen Weltenbummlerin gefunden.
Der Schrei einer Möwe ließ mich blinzeln, bevor mein Blick zu meinem Smartphone huschte. 7:00 Uhr. Ich erhob mich und ging in die angrenzende Wohnküche. Die Vorhänge folgten einer klanglosen Melodie, als ich die Fenster öffnete. Ich zog sie nicht zu, auch die in meinem Schlafzimmer waren lediglich Dekoration. Der Gedanke an dunkle, stickige und geschlossene Räume versetzt meinem Puls einen Adrenalinstoß.
Ehe meine Hände zu beben begannen, griff ich nach einer Tasse auf dem dunkel gemaserten Regalbrett über der steinernen Spüle. Ein Blitzen in meinem Augenwinkel ließ mich zusammenzucken. Der Deckel des Wasserkochers fiel klappernd zu Boden.
»Fuck!« Ein Sonnenstrahl hatte sich im Fensterglas verfangen. Ich ballte die Fäuste.
Ein- und ausatmen. Gegenwart. Hier und jetzt.
Die Flutwelle an Geräuschen, die sich in meinen Gedanken brach, ebbte ab. Als ich den Wasserkocher einschaltete und die Teedose in Form von Big Ben öffnete, hatte die Anspannung sich davongestohlen.
»You’ve got to be kiddin’ me.« Ich fuhr mir durch die vom Schlaf zerzausten Haare, während ich die rote Blechbüchse auf den Kopf drehte. Mein Earl Grey war leer. Kopfschüttelnd wartete ich auf das leise Klick, doch das heiße Wasser in dem bauchigen Kessel würde an diesem Morgen erneut kalt werden. Manchmal verfluchte ich mich für das britische Klischee und ärgerte mich, dass ich nicht einfach auf Kaffee oder eine andere Sorte Tee ausweichen konnte.
Gähnend wandte ich mich der Wohnungstür zu. Die Lieferung, die ich gestern mit Zay verräumt hatte, fiel mir wieder ein. Zumindest Schwarztee war dabei gewesen, wenn auch vermutlich eher ein Ceylon.
Barfuß stieg ich die schmale Treppe hinab, die in einen kleinen Flur mündete, an dessen Ende die weiß gestrichene Tür in die Bar führte. Die Holzdielen knarrten und die Sonne tauchte den Gastraum in goldenes Licht. Eine Mischung aus typischem Beachflair und alten antikwirkenden Möbeln empfing mich. Meiras Lieblingsstücke hatte Zay lediglich aufbereitet und neu platziert, wenngleich sich The JellyFish ansonsten sehr verändert hatte, moderner geworden war. Doch die Wärme und Gemütlichkeit nahmen mich gefangen, wann immer ich die Strandbar betrat. Das Rumoren der Kaffeemaschine ließ mich die Stirn runzeln.
»Bist du aus dem Bett gefallen, oder …« Der Rest des Satzes blieb mir im Hals stecken, denn nicht mein Freund lehnte mit Shorts und einem oversized T-Shirt bekleidet zwischen Theke und der dampfenden Maschine, sondern eine Frau etwa Anfang zwanzig. Erschrocken wirbelte sie herum.
»Verdammt, was… wir haben geschlossen und was ist das bitte für ein Aufzug? Gehst du so auch in den Supermarkt?« Sie deutete auf meine nackte Brust und hob abschätzig eine Braue.
Ich verschränkte die Arme. »Ich weiß, dass die Bar geschlossen hat, die Frage ist also, was machst du hier?«
Sie umfasste den gefüllten Becher, schüttete Hafermilch hinzu und ließ mich dabei nicht aus den Augen. »Entschuldige, wie war nochmal dein Name?«
Ich trat an ihr vorbei und schob eine Tasse unter den Heißwasseraufbereiter. »Nesh, und du bist?« Sie zuckte kaum merklich zusammen, als ich mich vorlehnte, um nach der Teedose, die über ihrem Kopf stand, zu greifen. Ihr Atem streifte meine Haut und sie sah zu mir hoch. Unser Größenunterschied betrug ca. 8 Inches.
»Empört über deine morgendliche Getränkewahl.«
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