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Ich bin so ehrgeizig, wie nur je eine Vertreterin meines Geschlechts war, ist oder sein wird.
Margaret Cavendish 1623 - 1673
Charlie: Hat da einer von mir gesprochen?
Professor Doktor Charlotte Hunter war das für Männer, was das Klischee des besten Freundes in den Augen der Frauen war. Irrelevant in Bezug auf die eigenen Interessen, aber der »beste Freund« schlechthin, als jemand, bei dem sie sich entspannen und sie selbst sein konnten, weil sie nicht darauf achten mussten, ihr Gegenüber zu beeindrucken.
Charlotte schien etwas an sich zu haben, das alle Männer in dem Glauben ließ, absolut nicht begehrenswert und eine von ihnen zu sein. Schwer nachvollziehbar. Charlotte wusste nicht einmal, seit wann dem so war. Sie erinnerte sich aber an keine Zeit zurück, in der sie nicht einen Mann als Kumpel gehabt hatte. Vom Kindergarten angefangen: Dennis – der Sandkastenfreund.
Nach eigenen Maßstäben hielt sie sich für charakterlich und optisch zumutbar.
Etwas hatte sie offenbar an sich, dass Männer sich gerne mit ihr umgaben, oder nicht? Scheinbar beschränkte sich das nur auf ein Zusammensein auf eine unerotische Art und Weise.
Entgegen der allgemeinen Annahme, es seien die »Inneren Werte«, auf die es ankam, war sie sich bewusst, dass für den Großteil ein anderes Credo galt: Alles, was zählte, waren Titten und Ärsche.
Da sie bei beidem von Mutter Natur nicht den Löwenanteil abbekommen hatte, war es durchaus verständlich, aus körperlicher Sicht gesehen nicht interessant genug zu sein.
Sie entsprach dabei mit ihrer hochgewachsenen Statur nicht mehr dem viel geliebten Schema einer Disney‑Prinzessin, war weder süß noch knuffig. In Sachen Napoleon‑Komplex gab es auch heute noch viele Männer, die nicht damit zurechtkamen, wenn ihre Partnerin größer war als sie selbst.
Charlotte schätzte ihre haselnussbraunen Augen, und sie hatte einen frischen Teint, um den viele sie gerade in der kalten Jahreszeit beneideten. Ihr Haar war von einem so dunklen Braun, dass es außerhalb direkter Sonneneinstrahlung schwarz anmutete. Es war leicht gewellt, wohingegen man andere Kurven an ihrem Körper vergeblich suchte.
Als emanzipierte Frau legte sie jedoch Wert darauf, dass ein potenzieller Partner sie vorrangig ihres Charakters wegen schätzte, wenngleich sie um die Wichtigkeit von körperlicher Anziehung wusste. Körperlichkeit war schließlich eines ihrer Steckenpferde.
Mit der ihr eigenen Wissbegierde hatte sie sich früh selbst erforscht und entdeckt. Sie hatte sich Bücher über die weibliche Sexualität besorgt, um zu lernen – Lesen war seit jeher die beste Methode, ihren Wissensdurst zu stillen – ihre Quellen waren allerdings schnell erschöpft. Außerdem war sie zu dem Standpunkt gelangt, Empfindungen zwar recherchieren, ›Erfahrung‹ aber nur am eigenen Leib sammeln zu können. Abhilfe war nötig gewesen. Freundinnen hatte sie nie gehabt und ihre Mutter … so offen sie gegenüber Sex war, so unaufgeklärt entließ sie ihre Tochter in das Leben einer jungen Frau.
Sie hatten nicht darüber gesprochen, was körperliche Zuneigung, Zärtlichkeit und Vertrauen in einer Partnerschaft war. Consent? Verhütung? Keine Themen, denen ihre Mom jemals Aufmerksamkeit geschenkt hätte.
Nie hatten sie sich ausgetauscht, wie man seinen eigenen Körper erkundete, dass es okay war, sich zu berühren, um herauszufinden, was einem gefiel, – und das einem Partner oder einer Partnerin gegenüber zu kommunizieren.
Weil Charlotte vermeiden wollte, dass andere Frauen in die gleiche Situation kamen wie sie, hatte sie im Rahmen ihrer Tätigkeit als Sexualtherapeutin einige Bücher zu diesen Themen verfasst. Sie fand es furchtbar, dass die Geschlechtlichkeit der Frau so tabuisiert wurde, und hatte es sich auf die Fahne geschrieben, Aufklärung zu leisten. In der Historie gab es viele einschneidende Ereignisse, die das Frauenbild bis in die Gegenwart prägten. Dabei sah Charlie nicht nur in der Kirche einen Quell der weiblichen Unterjochung, wo es Frauen bei den Katholiken beispielsweise verwehrt blieb, höhere Ämter zu bekleiden. Weiblichkeit war einst im Mittelalter mit etwas Unreinem und Bösem gleichgesetzt worden und hatte seinen Gipfel in der Hexenverfolgung gefunden. Charlotte kämpfte darum, dass man sich an andere Vorbilder hielt. Matriarchalische Kulturen, die in der Frau das Göttliche gesehen hatten, einen Schoß der stetigen Wiedergeburt, der Erneuerung und der Inspiration, – das waren die Stellungen, in denen sie Frauen sehen wollte.
Und es beginnt in den eigenen Köpfen.
Es war egal, ob man einen Doktortitel hatte oder eine Schar Kinder hütete. Jede Frau sollte dazu fähig sein, das zu tun, was ihr Erfüllung schenkte. Jeder Mensch sollte so arbeiten und leben können, wie er oder sie selbst es für richtig hielt, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen. Vollzeit, Teilzeit, mit Kindern oder ohne. Mit behaarten Beinen oder glatt rasiert. Verheiratet, verpartnert oder solo. Dass man Nein sagen durfte, wenn man nein meinte, und man Respekt entgegengebracht bekam für eigene Meinungen und Ansichten. Jede Frau konnte emanzipiert sein, ob sie dabei Hausfrau, Mechanikerin oder CEO war. Charlie wollte das Vertrauen in die eigene Intuition gestärkt wissen. Frauen sollten sich darauf besinnen, auf dieses Bauchgefühl zu hören, sich davon leiten lassen, selbst wenn sie sich damit unpässlich und unbequem verhielten. Sie wollte weg von den braven Mädchen von nebenan, die zu allem Ja und Amen sagten und zur Bescheidenheit erzogen wurden.
Diese Aufgabe motivierte sie.
Als junge Frau hatte sie in ihrem eigenen Pragmatismus entschieden, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, – vor allem, was ihren Körper anging. Es musste doch einen Grund geben, warum alle Welt um das Thema Sex so einen Wirbel machte. Sie hatte sich Lehrstunden beschafft, mit einem Mann, der in der Band der aktuellen Flamme ihrer Mutter gearbeitet hatte. Nachdem ihre Mom Wind davon bekommen hatte, hatte sie zu ihr gesagt: »Wer alt genug für Sex ist, ist auch alt genug für sich selbst zu sorgen.«
Ihre Mom hatte Charlie mit siebzehn Jahren vor die Tür gesetzt. Seitdem hatten sie keinen Kontakt mehr. Über das Jugendamt und mithilfe verschiedener Anträge hatte man ihr aufgrund ihrer entsprechenden Reife ihre Geschäftsfähigkeit zugewiesen und eine Wohnung für sie besorgt, sodass sie nicht in eine Pflegefamilie musste.
Dass ihre Mutter seit dem Moment von Charlottes Geburt mit ihr überfordert gewesen war, war ihrer Tochter früh klar geworden. Mit Charlies ›Vergehen‹ hatte sie einen Vorwand, um ihr ungewolltes Kind loszuwerden, wo sich die beiden Frauen in ihrem Wesen so wenig glichen wie ein Kuckuckskind seinen Geschwistern im fremden Nest.
Charlotte hatte all ihre Sorgen und Probleme mit sich allein ausgemacht und war vielleicht deshalb zu einer Meisterin der Selbsthilfe und Psychoanalyse, inklusive Seelsorgerin für alle mutiert. Ihr Talent hatte sie zum Beruf erkoren. Nützlich dafür war ihre ausgeprägte Menschenkenntnis, die sie bis jetzt nie im Stich gelassen hatte.
Ihre Mom war selbst ein Kind gewesen, als sie Charlotte geboren hatte. Ihr Faible für jüngere Männer hatte sie nicht aufgegeben. Ein Kind hatte nicht in ihre Lebensphilosophie gepasst.
Anstatt mit Gleichaltrigen zusammen zu sein, hatte Charlotte in Hinterräumen einer schlechten Rockband zugehört, weil der Sänger zufällig die neue Liebe ihrer Mutter gewesen war, oder in einer Garage einem jungen Mann dabei zugesehen, wie er sein Motorrad repariert hatte. So hatte sie einiges gelernt: Motorradfahren, Autos reparieren oder klauen, Konversation betreiben, fluchen, und dass eine schlechte Band, auch wenn sie übte, nicht unbedingt zu einer guten Band wurde.
Diese Männer hatte sie gemocht. Und das hatte auf Gegenseitigkeit beruht. Charlie war behandelt worden wie eine kleine Schwester, ein Kumpel oder eben die Tochter der Frau, mit der man schlief.
»Nur eine coole Mom kann eine so coole Tochter haben wie dich.«
Charlotte hatte in Bars gesessen und dem Barkeeper interessiert dabei zugesehen, wie er Ratschläge fürs Leben erteilt hatte, wenn ihre Mom für kurze Zeit dort untergekommen war und gekellnert hatte. Oder sie hatte sich mit einem Buch in eine Ecke verzogen und sich Fremdsprachen beigebracht, während ihre Mutter in einem Club die Nacht zum Tag gemacht hatte.
Die Intelligenz ihrer Tochter war für ihre Mom schwer zu handhaben gewesen.
»Warum sitzt du schon wieder mit einem Buch in deinem Zimmer? Das wirkliche Leben spielt sich woanders ab. Komm, wir gehen aus!«
Dass Charlie sich weder für ihr Outfit oder ihr Aussehen noch die nächste Party interessiert hatte, war ihrer Mutter immer sauer aufgestoßen.
»Wie kann ein so junger Mensch schon so eine Couchpotato sein? Und nimm diese scheußliche Brille ab, damit siehst du ja aus wie eine Eule! Würdest du dich mal ansehnlicher herrichten, könnte man sich auch mit dir sehen lassen!«
Ihre Mom hatte es nicht mitbekommen, dass Charlie zwei Klassen übersprungen hatte. Durch ihren Lebensstil hatte sie ihre hochbegabte Tochter früh zur Selbstständigkeit erzogen. Die Männer, die als platonische Freunde Charlottes Wegbegleiter gewesen waren, hatten sie in ihrem Leben mehr geprägt als ihre Erzeugerin. So hatte einer mit ihr die englischen Klassiker gelesen und analysiert. Ein anderer hatte ihr Selbstverteidigung beigebracht, und ein weiterer Mann, der HIV‑positiv gewesen war, hatte ihr eine Lektion in Sachen Safer Sex, One‑Night‑Stands und Gefühle erteilt – der Grundstein für ihre Tätigkeit als Sexualtherapeutin.
Nachdem ihre Mom Charlotte an jenem unangenehmen Abend aufgefordert hatte auszuziehen, hatte diese sich bereits mit einem Stipendium an der Georgetown University in Washington für Psychologie eingeschrieben.
Anstatt mit Freunden auf Partys zu gehen, hatte sie sich, dort angekommen, in Bücher geflüchtet, weil sie dankbar gewesen war, sich vor niemandem mehr für ihren Wissensdrang rechtfertigen zu müssen. Sie war die jüngste Absolventin gewesen, die die Uni jemals hervorgebracht hatte. Bis zum Ende ihrer Studienzeit hatte sie auf dem Campus gelebt.
Auf der Schule war sie schon die Jüngste und ein Nerd gewesen. An einer Universität mit vielen begabten Köpfen war es indes so, dass sie mit dieser Besonderheit das erste Mal wirkliche Zugehörigkeit gefunden hatte.
Für ihre intelligenten männlichen Kollegen war sie wie eine Gleichgestellte, mit der man sich fachlich maß. Konfrontationen hatten sie nur angestachelt, das Beste aus sich herauszuholen. Das körperliche Interesse an ihr hatte nie mehr an Fahrt aufgenommen, aber sie erfuhr Akzeptanz für ihr Können und war beliebt.
Wenn bis heute jede Frau behauptete, sie würde Männer nicht verstehen, stellte es Charlotte vor keine Probleme. Außer, wenn es um Sex ging. Sie war und blieb die beste Freundin. Und mit der schlief man nicht.
Charlotte sehnte sich unermesslich nach ein wenig Zärtlichkeit. Da gab es das Problem in rein praktischer Hinsicht, da sie, umgeben von so vielen Männern in ihrem Freundeskreis, niemand nur annähernd für einen Single hielt. Und wenn es dann doch zu Annäherungsversuchen kam, konnte Charlotte es ihrem Kandidaten niemals verdeutlichen, warum sie ihre Jungs, die sie, sofern sie unter sich waren, liebevoll ›Die Klöten‹ nannte, nicht aufgeben würde. Damit waren Eifersüchteleien vorprogrammiert. Und für Charlie nicht tolerierbar. Die Wahl zwischen tiefer Freundschaft versus Partnerschaft würde immer zugunsten ihrer Freunde ausfallen, wenn ein Lover so dreist war, diese Entscheidung einzufordern. Lebenspartner gingen, echte Freundschaften konnten ein Leben lang bestehen. Das wusste sie, immerhin hatte sie nicht nur ihre Mom aufmerksam beobachtet.
Wenn die unwahrscheinlichste aller Varianten aufkam, dass jemand sie sowohl gerne kennenlernen wollte als auch Charlie sich ernsthaft für ihn erwärmte, dann lief es nach Schema F ab:
Spätestens kurz vor dem Liebesspiel kam er: der emotionale Ausbruch männlicherseits.
Der Fluch von Charlottes Dasein.
Sie definierte sich über ihre Arbeit und ihr Helfersyndrom.
Charlotte war Psychologin durch und durch. Niemals würde sie jemandem ihre Hilfe verwehren, der sie darum bat. So machte sie ihre Hose zu, legte ihre Bluse wieder an … und ließ die Männer reden. Eine Partnerschaft damit zustande zu bringen war nicht möglich, da sie ab diesem Moment mehr Therapeutin denn Geliebte war.
Charlie widmete all ihre angestaute Liebe und Energie ihrer Arbeit und ihren Patienten, was das Geheimnis ihres Erfolges war und die schnelle Entwicklung ihrer Karriere samt Studium erklärte.
Außerdem tat sie so, als gäbe es da nicht einen leeren Platz in ihrem Inneren und tröstete sich damit, keine gebrochenen Herzen, Flirts oder zum Scheitern verurteilte Beziehung überwinden zu müssen. Sie konnte ungezwungen mit ihren Freunden zusammen sein, ohne dass ihr ein Kerl im Genick saß. Mit ihnen konnte sie lachen, Probleme wälzen und diskutieren, obgleich es im Regelfall nicht ihre eigenen waren.
Der gute Draht zu Männern war ihr bei Frauen definitiv abhandengekommen. Das weibliche Geschlecht war ihr gegenüber reserviert, und Charlotte hatte gelernt, sich im Gespräch zurückzuhalten, weil sie polarisierte – im Falle ihrer Geschlechtsgenossinnen auf die Seite der Ablehnung. So etwas wie eine beste Freundin kannte sie nicht, wo schon ihre Mutter keine wirkliche Bindung zu ihr hatte aufbauen können.
Charlie fand Frauen im Gegenzug wunderbar. Umso mehr kränkte es sie, dass sie keinen Zugang zu ihnen fand. Frauen waren empathisch, fürsorglich und Teamplayer. Nur in Konflikten scheiterten sie häufig. Vor allem in Konflikten mit anderen Geschlechtsgenossinnen.
Charlotte präferierte dahingehend eher die Konfliktlösungen von Männern. Als Psychologin war sie der Ansicht, dass es half, konkret zu sein und seinem Gegenüber im Zweifel lieber eins auf die Nase zu geben, verbal oder buchstäblich.
Nicht nur Frauen, sondern ebenso Kinder versetzten Charlotte in Unbehagen, außer in ihrer Funktion als Therapeutin.
Sie hatte eingesehen, sich einen Partner und eine eigene Familie zu wünschen, aber in ihrem unbeholfenen Umgang mit Kindern sah sie sich zuletzt darin bestätigt, dass sie nicht der mütterliche Typ zu sein schien. Sie bemaß ihren Selbstwert zwar weder an ihrer Reproduktivität, noch an ihrem Beziehungsstatus und hatte zudem nicht das Gefühl, nicht ausgefüllt zu sein – im Gegenteil, wenn sie so einen Blick auf ihren Terminplaner warf. Aber vielleicht fehlte ihr doch etwas?
Charlotte hatte über die Option einer Samenspende nachgedacht. Sie hatte gleichwohl am eigenen Leib erfahren, was es hieß, Kind eines alleinerziehenden Elternteils zu sein, und war lange zu dem Schluss gekommen, Nachwuchs bloß in einer intakten Beziehung in Erwägung zu ziehen. Aber empfand sie das noch immer so?
Aus ihren Sitzungen wusste sie, dass ein unerfüllter Kinderwunsch mit zunehmendem Alter für Frauen problematisch werden konnte, und hatte sich dem Thema offen gestellt. Fakt war, sie verfügte im Kontakt mit Kindern über keinen großen Erfahrungsschatz. Außerdem kam sie logisch und nüchtern betrachtet damit klar kinderlos zu sein. Ihre Emotionen hatte sie dabei gut im Griff.
Oder?
Das war zumindest das gedankliche Konstrukt, das Charlotte an diesem Abend von sich aufrechtzuerhalten suchte. Dieses Bild rekapitulierte sie zum millionsten Mal, während sie ihre Maisonettewohnung mit Blick über Washington auf Vordermann brachte.
Nachdem sie einen leitenden Posten in einer psychosomatischen Rehaklinik angenommen hatte, hatte sie dieses Juwel im schönen Georgetown aufgetan.
Sie liebte das Stadtviertel. Manch einer fand es elitär, sie dahingegen schätzte die Straßen mit Kopfsteinpflaster, an denen, wie an einer Perlschnur, die hübschen Häuser aus dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert aufgereiht waren. Es gab entzückende Parks, in denen sie im Schatten uralter knorriger Bäume flanieren konnte oder sich auf einer Bank mit einem Buch in der Hand niederließ, um zu schmökern.
Ihre Wohnung selbst wirkte großräumig, dank der verwinkelten Anlage und war doch für eine Person zu handhaben. Einer ihrer Lieblingsorte war die riesige Dachterrasse, die oft Schauplatz für die Übertragung von sportlichen Großereignissen war. Mit Beamer und Leinwand ausgestattet, lud sie zu solchen Gelegenheiten ihre Freunde zu sich ein. Einer von ihnen hatte ihr aus Paletten eine Couchlandschaft gebaut, die für alle Platz bot. In einer lauen Sommernacht lag sie bisweilen dort und schaute sich den Sternenhimmel an.
Vom Eingangsbereich aus, in dem sie gerade war, hatte man einen schönen Blick auf diese Terrasse und in das Wohn- und Esszimmer, die den Großteil der Quadratmeter ihres Domizils einnahmen.
An diesem Tag würde sie sich den Blick dorthin lieber sparen.
Da Charlotte in ihrem Beruf aufging und rund um die Uhr für ihre Patienten zur Verfügung stand, kam das eigene Leben zu kurz, sodass sie einmal in der Woche eine Komplettsanierung ihrer Wohnung veranschlagen könnte.
Charlotte strich sich eine dunkelbraune Strähne aus dem Gesicht und bückte sich, um in ihrem Putzeimer den Lappen auszuwringen. Sie checkte ihre Armbanduhr und stellte fest, dass es weit nach Mitternacht war.
Welcher vernünftige Mensch putzte nachts seine Bude?
Charlie rieb sich mit dem Handrücken über die Stirn. Vielleicht wäre es an der Zeit den Geiz zu vergessen und eine Reinigungskraft zu engagieren, überlegte sie, während sie das Chaos in ihrer Wohnung überblickte.
Sie hatte ein Faible für Dekorationsartikel, neu wie antik und bewahrte zudem sämtliche Dankeskarten oder Bildprojekte auf, die ihr ihre Patienten zum Geschenk gemacht hatten, weil sie sich nicht davon trennen konnte. Jedes dieser Stehrümchen erzählte eine Geschichte, – eine bedeutsame. Es wäre blanker Hohn vor ihrer Leistung als Psychologin sie wie Abfall zu entsorgen.
In ihrem allgemeinen Chaos sorgte ihre Sammlernatur dafür, dass ihre Wohnung einer Mischung aus Rumpelkammer, Antiquitätenladen und Dekorationsfachgeschäft glich. Staub zu wischen war die reinste Hölle.
Kreuz und quer lagen zudem ihre Klamotten auf der Couch gestapelt. All die fein säuberlichen Hosenanzüge, die sie mit Vorliebe in ihrer Praxis trug, daneben den Rentier‑Schlafanzug, den sie gerne anzog, weil er so weich war und ihr das Karomuster darauf gefiel.
Auf ihrem Schreibtisch stapelten sich alle möglichen Notizen, die sie sich zu diesem oder jenem Patienten gemacht hatte, und die Küche war nicht weit davon entfernt vom Gesundheitsamt für kontaminiert erklärt zu werden.
Hatte sie die Verpackung vom Chinesen nicht entsorgt, die seit knapp fünf Tagen in ihrer Spüle vor sich hingammelte? Urgh.
Am liebsten hätte sie sich einen Feuerwehrschlauch genommen und alles querbeet mit Wasser bespritzt, – eher kontraproduktiv.
So klatschte sie den Lappen mit einem lauten Platsch auf den Boden und wienerte.
Nachdem sie den gröbsten Dreck beseitigt hatte, sammelte sie ihre Kleider ein und legte sie ordentlich zusammen. Dabei entschied sie spontan, ihren Kleiderschrank auszuwischen, wenn sie schon putzte. Da sich ohnehin der Großteil ihrer Bekleidung in der Wohnung verteilte und nicht im Schrank befand, war das Ausräumen eine Kleinigkeit.
Während sie ihrem Unterwäschefach auf den Leib rückte, entdeckte sie ein kleines Schächtelchen.
Eine Packung Kondome.
Und sie war seit zwei Jahren abgelaufen.
Ich bin nicht nur eine Pottsau, die ihre Wohnung versiffen lässt … Ich bin eine untervögelte Pottsau.
Zumal sie realisierte, dass das Haltbarkeitsdatum bei Weitem lange nach dem Herstellungszeitpunkt datiert wurde.
Mit der Kondompackung in der Hand ließ sich Charlie langsam auf die Bettkante sinken. Sie betrachtete das Tütchen wie eine tickende Zeitbombe.
War diese Packung Kondome sinnbildlich für ihre sexuelle Blütezeit zu werten?
War die Zeit ihrer Vagina abgelaufen, wie die Pariser in der Schachtel?
Ihre unfreiwillige Abstinenz war lange kein Problem, aber durfte sie noch sexualtherapeutische Ratschläge erteilen, wenn sie, was die Praxis anging, nicht mehr up to date war?
Sie seufzte einmal tief und ließ ihren Schrank Schrank sein.
Es gab Momente im Leben einer Frau, da half nur heiße Schokolade! Mit ebenjener in der Hand nahm sie auf der Couch Platz.
Charlie ließ ihren Blick über die Fotocollagen an der Wand gegenüber schweifen, die sie zusammen mit ihren Freunden zeigten, dann über ihren Schreibtisch, der aufgeräumt kaum besser aussah als zuvor.
Ihre Unordentlichkeit war ein eindeutiges Indiz dafür, dass sie in einer Krise steckte.
Dabei hatte sie sich mit allen Mitteln davon abhalten wollen, selbst ein Fall für den eigenen Berufsstand zu werden. Sie hatte alles versucht, um nicht dem Bild gerecht zu werden, das so viele Menschen von Psychologen zu haben schienen.
Das Wort schrullig und Schlimmeres geisterte ihr durch den Kopf.
Stopp!
Mit Wucht stellte sie die Tasse auf dem Tisch ab, sodass der Kakao darin fast überschwappte.
Ich hab alles im Griff!
Charlotte würde nicht so tief sinken, ihrem Leben den Sinn abzusprechen, nur weil sie keinen Partner und keinen Sex hatte und sie im Chaos versank. Das Problem war: Sie hatte sich selbst in diese Rolle hineinmanövriert. Es war in Ordnung, Single zu sein, und es sagte nichts über ihren Wert als Mensch aus!
Aber … sie vermisste etwas. Und dabei ging es nicht ausschließlich um Sex.
Sie dehnte ihren Nacken und ließ ihren Kopf kreisen, um die Gedanken darin gerade zu rücken.
Charlotte war erfolgreich in ihrem Job, hatte tolle Freunde und würde sich eine neue Packung Kondome kaufen.
Basta!
So geeicht ging sie ihre Notizen für die Patienten am kommenden Tag durch und schrieb sich ein Post‑it mit ihrer To‑do‑Liste für die anstehende Woche.
Als sie diese Erinnerungen in guter Position an ihren Spiegel an der Garderobe gepinnt hatte, schaltete sie ihre Playlist auf Spotify ein und kehrte an ihre Aufräumarbeit zurück, begleitet von Disturbeds Are you ready.
Ich bin verdammt ready!
Und ein Wischmopp eignete sich meisterhaft als Mikrofon. Nur headbangen sollte sie mit dem nassen Mopp besser nicht.
Der dreistündige Rundumschlag hatte ihr Innerstes annähernd ins Lot gerückt, stellte sie erleichtert fest, während sie aus dem Fenster blickte. Charlie beobachtete die Sonne, die ihre Strahlen aussandte und sich über die Dächer der Stadt erhob, um sie in goldenes Licht zu tauchen. Die Fenster gegenüber reflektierten die Lichtquelle, und die schillernden Widerscheine wanderten mit dem aufsteigenden Stand der Sonne über die Häuserfassaden, wie der Sucher eines Spotlights.
Sie gestattete sich, eine Weile zuzusehen und für ein Augenblinzeln wollte sich ein friedliches Gefühl bei ihr einstellen, bis sie in ihr Schlafzimmer trat, auf ihr Bett blickte und dort in drohender Position die Kondome liegen sah.
Tick‑tack‑tick‑tack.
Mit einer schnellen Bewegung ließ sie dieselben in einer Mülltüte verschwinden und sprang unter die Dusche mit dem Gedanken, dass es mit Sicherheit Menschen gab, denen es wesentlich beschissener ging als ihr.
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