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Leseprobe zu Wie der Winter klingt

Autorenbild: Lisa und AnnaLisa und Anna

 


 

ERSTER SATZ – JANE


OUVERTÜRE

Das letzte Mal


Mein Körper wusste, dass der kommende Tag alles verändern würde. Ich wachte mit einem drückenden Gefühl in der Magengegend auf. Der heiße Kaffee, den ich langsamer trank als sonst, betäubte es nur für einen Moment.


Ich machte mich auf den Weg in den St. James’s Park und ignorierte weiterhin den Klotz in meinem Magen. Mum kann mich sicher ablenken. Das schafft sie immer. Beim Gedanken an sie umhüllte mich Geborgenheit wie eine Decke – mitten in der Londoner U-Bahn.


Wir waren am Park Lake verabredet und wie immer ließ Mum mich warten. Die Sonne strahlte auf die Grünflächen und den See und ich atmete die frische Luft tief ein, die den Geruch von Rosen in meine Nase steigen ließ. Die Vielfalt der sorgfältig angeordneten Blumen faszinierte Mum bei jedem Spaziergang so sehr, dass sie kaum den Blick davon abwenden konnte. Ich fand die Farbenpracht zwar auch beeindruckend, kannte mich aber nicht so gut mit Pflanzen aus wie sie, was sie regelmäßig den Kopf schütteln ließ.

Ich liebte unsere Sonntagsspaziergänge. Mums Job in einer Werbeagentur war zwar stressiger als meine Arbeit in Dads Buchladen, dennoch genossen wir die kurze Auszeit aus dem Alltag gleichermaßen.

»Hi, Jane!«, rief sie hinter mir und zauberte mir sofort ein Lächeln ins Gesicht.

Ich drehte mich um und sah Mum auf mich zueilen. Die karamellfarbene Bluse und der braune Sommerrock, den sie trug, harmonierten perfekt mit den dunkelblonden Haaren, die ihr Gesicht umrahmten.

Daneben sah mein Outfit, bestehend aus einer blauen Jeans und einem bunten Baumwoll-Top, regelrecht zusammengewürfelt aus. »Hey, Mum, wie geht’s dir?«

Wir umarmten uns zur Begrüßung und das Geborgenheitsgefühl aus der U-Bahn meldete sich wieder zurück.

»Kann mich nicht beklagen. Ich bin aber froh, jetzt hier zu sein. Die Woche war die Hölle in der Agentur. Ist bei dir auch alles okay? Wir haben uns ja seit Tagen nicht gesehen. Gut, dass dein Dad mir ab und zu von dir erzählt hat. Du könntest dich ruhig mal häufiger melden, auch unter der Woche.«

Ich nickte und ignorierte meinen Magen, der sich immer noch anfühlte, als hätte ich einen Stein verschluckt. Heute Nachmittag werde ich mich mit einem Tee aufs Sofa verziehen.

Wir schlenderten ein Stück den Weg entlang und beobachteten, wie zwei Eichhörnchen über die Wiese sprangen. Dads Geburtstag war schon in zwei Wochen und wir heckten einen Plan aus, wie wir ihn an dem Tag von der Arbeit abhalten würden, um mit ihm wegzufahren. Er brannte für seinen Laden. Manchmal sogar etwas zu sehr.

Mum verlangsamte mitten in einer Bewegung ihre Schritte.

»Mum? Was ist los?«

»Mir ist nur etwas schwindelig. Halb so wild. Bestimmt das Wetter«, antwortete sie kopfschüttelnd, aber ihre blasse Gesichtsfarbe entging mir nicht.

Ich schnaubte. »Du arbeitest zu viel.«

Sie machte eine abwertende Handbewegung und holte mich nur langsam ein. »So ein Quatsch! Mir geht’s gut.« Kaum hatte sie den Satz beendet, fasste sie sich an den Brustkorb und beugte sich nach vorne.

Meine Füße fühlten sich an, als wären sie in Blei getunkt. Wie in Zeitlupe bewegte ich mich auf sie zu.

Ihre Knie konnten das Gewicht nicht mehr tragen und sie taumelte einen Schritt nach vorne.

Ich trat an ihre Seite und schob meine Arme unter ihre Achseln, um ihr zu helfen, bevor sie zu Boden stürzte. Die Geräusche in der Umgebung schwollen in meinem Kopf zu einem unverständlichen Dröhnen an. Meine Augen brannten, und einen Moment später liefen Tränen über meine Wangen, die vor Hitze glühten. Ich sah durch den Tränenschleier, wie jemand ein Handy aus der Tasche holte.

Ein Passant hatte sich neben mich gekniet und leistete Erste Hilfe. Ich fuhr mir über das Gesicht, um das Schwindelgefühl loszuwerden. Bin ich das, die da spricht?

»Mum, Mum … was ist los?« Ich hielt ihre schweißnasse Hand fest in meinen beiden Händen. Jeder ihrer schweren Atemzüge war wie ein Stich ins Herz für mich. »Du wirst wieder gesund, okay? Du schaffst das …« Ich muss das Dröhnen im Kopf übertönen, damit sie mich hört.

Mum blinzelte und schaute sich um. Sie atmete flach.

Ich rutschte näher zu ihr und schob alle schrecklichen Gedanken von mir, um ganz bei ihr zu sein. »Ich bin hier. Es wird alles gut.« Meine Stimme brach, und Tränen flossen mir unermüdlich die Wangen hinunter. Eine nach der anderen. Verdammt! Reiß dich zusammen!

Mum versuchte, tiefer Luft zu holen, doch schaffte es nicht.

Aus der Ferne näherte sich ein Martinshorn. Die Töne wurden lauter, und mein Körper erschauerte unter einer Gänsehaut.

Einen Moment später machte der Ersthelfer den Sanitätern Platz. Ich wurde angewiesen, sofort aus dem Weg zu gehen. Wo waren sie die ganze Zeit gewesen? Zwei Männer in neonfarbenen Jacken beugten sich über Mum. Denkt denn keiner daran, dass ich bei ihr bleiben will? Ich erkannte nicht, was sie taten. Überall roch es nach Desinfektionsmittel, und ich schluckte die Magensäure hinunter, die in meiner Speiseröhre brannte.

»Was ist mit ihr?« Meine Stimme überschlug sich, während ich meinen Kopf hob, um über die Sanitäter hinwegzublicken.

»Beruhigen Sie sich, wir kümmern uns um Ihre Mutter.« Eine junge Sanitäterin legte mir eine Decke über die Schultern.

Ich zog sie fester um mich, aber an meiner Gänsehaut änderte sich nichts.

»Sie ist wieder da!«, rief einer der Sanitäter. Er rutschte zur Seite, damit ich mit ihr sprechen konnte.

Endlich! Ich streichelte Mum über ihre dunkelblonden Haare, und die Berührung beruhigte mich für einen Augenblick.

Sie schlug die Augen halb auf und sah aus, als wollte sie etwas sagen.

Ich drückte ihre Hand an meine Wange und ignorierte das Schwindelgefühl. »Du wirst wieder gesund, Mum, hörst du? Wir kriegen das hin«, sagte ich mit aller Überzeugungskraft, die ich aufbringen konnte.

Sie holte tief Luft und sah mich mit glasigen Augen an. »Ich liebe dich. Und John«, flüsterte sie. Dann schloss sie ihre Lider.

»Wir lieben dich auch, Mum!« Ich war mir nicht sicher, ob sie meine Antwort noch gehört hatte. Ihr Kopf kippte zur Seite auf meine Hand und fühlte sich ungewohnt schwer an. Um mich herum brach noch einmal Hektik aus. Die Frau, die mir zuvor die Decke gereicht hatte, zog mich hoch und führte mich ein Stück weg, während die Sanitäter sich wieder über Mum beugten.

»Lassen Sie mich los, ich muss bei ihr bleiben.« Ich klang nur so entschlossen, wie es meine tränenerstickte Stimme zuließ.

»Warten Sie!«, erwiderte die Sanitäterin, doch ich löste mich aus ihrem Griff und stürmte auf Mum zu. Bevor ich sie erreicht hatte, drehte sich einer der Männer zu mir um und schüttelte den Kopf. Es war vorbei.

Ich war unfähig, mich zu bewegen. Das Gefühl in meinem Magen hatte sich als grausame Vorahnung erwiesen. Doch niemals hätte ich so etwas dahinter vermutet. Die Welt, wie ich sie kannte, stand still und ich mit ihr.

Wie durch Nebelschwaden sah ich einen der Sanitäter telefonieren, und eine Stimme drang dumpf an mein Ohr. »Sollen wir jemanden für Sie anrufen?«

Mein Herz zog sich zu einem harten Klumpen zusammen. Dad. Er muss es wissen. Ich gab wie in Trance seine Nummer durch und bewegte mich langsam auf Mums leblosen Körper zu. Als ich sie erblickte, wurden meine Beine schwer und ich sackte weinend über ihr zusammen.

Die letzte Umarmung. Für immer.


In den kommenden Wochen wurden Dad und ich von einer brennenden Leere erfasst. Mum war fort. Wir würden nie wieder den mitfühlenden Tonfall in ihrer Stimme hören, der uns sofort aufmunterte, wenn der Tag im Laden anstrengend gewesen war. Mir fehlten ihr ansteckendes Lachen in den höchsten Tonlagen und ihre Umarmungen, die ich auch im Erwachsenenalter noch gebraucht hatte.

Dads Geburtstag, den wir eigentlich an der Küste verbringen wollten, zog in einer Art Schockzustand an uns beiden vorbei. Auch meiner im September war ein Tag wie jeder andere. Ohne gemeinsames Frühstück und Mums Schmunzeln über den Kaffee, den ich wieder einmal zu mild gekocht hätte. Es gab für alles ein letztes Mal, das wurde mir schlagartig klar. Wir würden keine Lichterketten mehr zu Weihnachten aufhängen und darüber streiten, wer schöner dekoriert hat. Keine Sonntagsspaziergänge mehr oder Kinoabende mit Filmen, die wir auswendig kannten. Wochenlang verfolgten mich die Gedanken an alles, was wir unternommen hatten, nicht wissend, dass es das letzte Mal gewesen war.

 

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